Thursday, July 21, 2022

T.C. Boyle - Dr. Sex

Als Alfred Kinseys Reports über Sexual Behaviour 1948 (Männer) und 1953 (Frauen) erschienen, war die Entrüstung groß. Niemand hatte zuvor Studien über das menschliche Sexualleben veröffentlicht und so schlugen die Publikationen des US-amerikanischen Biologen große Wellen. Für seine Ergebnisse hatte er erstmals konkrete Befragungen von Männnern und Frauen mit einem umfangreichen Fragenkatalog erhoben, der u.a. auch homosexuelle Erfahrungen einbezog – allein dies sorgte schon für große Entrüstung.

2004 veröffentlichte T.C. Boyle seine literarische Darstellung der Recherche-Phase Kinseys unter dem Titel Dr. Sex (Original: The Inner Circle). Erzählt wird aus der Perspektive eines fiktiven Mitarbeiters, John Milk, der zunächst noch als Student Interesse für Kinseys Forschungsgebiet enntwickelt. Er gehört dann später zum inneren Kreis derjenigen, die Daten erheben und auswerten. Pararallel dazu wird aber auch deutlich, dass Kinsey selbst durch seine hohen Ansprüche und seine ausgelebte eigene sexuelle Freiheit keine einfache Persönlichkeit war. Hier greift Boyle Gerüchte über   homosexuelle Beziehungen oder auch Gruppensex mit den verheirateten Partner innerhalb der Kinsey-Gruppe auf, die offiziell nie bestätigt werden konnten. Die Ehefrau John Milks ist es schließlich, wegen der es in einer Szene des Romans schließlich zu einem Bruch mit diesen Praktiken kommt und Milk seine eigene Positiion überdenken muss. Zentrale Frage ist nicht die nach der Normalität oder Moral verschiedener sexueller Handlungen, sondern eher die nach einer Trennung von wissenschaftlicher Arbeit und emotionaler Involviertheit. Vermissen lässt Boyle in seinem Roman eventuell eine Beleuchtung der Arbeitsweise und auch der Ergebnisse Kinseys. Auch die Frage nach der Bedeutung seiner Arbeit wird nicht beantwortet. Zwar wird Kinseys plötzlicher Erfolg nach seinen Veröffentlichungen kurz dargestellt, aber die gesellschaftlichen, politischen (z.B. für Homosexuelle) und wirtschaftlichen (in Hinsicht auf weitere Forschung) Folgen bleiben unerwähnt. So bleibt Dr. Sex eher eine sehr persönliche Beleuchtung eines fiktiven Kinseys – da wäre vielleicht mehr möglich gewesen…

Die Lesung von Jan-Josef Liefers hat mir gut gefallen, er setzt die durch den Erzähler John Milk von sich selbst geforderte Ehrlichkeit auch stimmlich gut um.

 

T.C. Boyle, Dr. Sex. Hörverlag 2005. 

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