Monday, August 02, 2021

Colson Whitehead - Underground Railroad

Als in der Popsugar Reading Challenge das Genre Afrofuturism auftauchte, musste ich erst einmal recherchieren und trotz Wikipedias Definition habe ich dennoch nur eine vage Vorstellung. Entscheidend schien mir dies: "While Afrofuturism is most commonly associated with science fiction, it can also encompass other speculative genres such as fantasy, alternate history, and magic realism."
Wow, alternative Geschichte und magischer Realismus - es blieb abenteuerlich. Zum Glück liefert goodreads ja auch immer Listen zu den Popsugar Reading Challenge Aufgaben und so fand ich heraus, dass Colson Whiteheads Roman Underground Railroad, den ich sowieso lesen wollte (
Pulitzer Price 2017), zum Genre passt. Und da wurde es gleich spannend, denn wenn man dieses Roman beginnt, hat man erst einmal den Eindruck, es handele sich um einen historischen Roman, eine Geschichte zu Zeiten der Sklaverei in den USA. Doch die Unstimmigkeiten häufen sich und treten spätestens in der Szene zu Tag, in der die Underground Railroad (historisch ein Netzwerk von Menschen, die Sklaven zur Flucht in die Freiheit verhalfen) als tatsächliche Untergrundbahnstrecke beschrieben wird. Zahlreiche goodreads-Diskussionen und -Rezensionen zeigen, dass sich hier auch die Geister scheiden, ob sie den Roman schätzen oder nicht. Der Autor wagt es, das überaus harte Thema des Leidens der Afroamerikaner *nicht* realistisch zu schildern und nicht historisch akkurat darzustellen, statt dessen bastelt er neben der Railroad auch noch ganze Staatsgesetze hinzu und vermischt Dinge, die eigentlich zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden haben (z.B. die Episode mit der Idee zur Sterilisation von Schwarzen).
Nun, Whitehead hat nichts von historischem Roman gesagt. Das sind wir, die Leser, die dies erwarten.
Alternative Geschichte und magischer Realismus.

Aber was bleibt, wenn man sich von dieser Problematik löst und die Geschichte als solche hinnimmt?
Da ist die Protagonistin Cora. Die ist real und wenig magisch. Durch sie erleben wir die Misshandlung und Erniedrigung und das Leid auf allen Ebenen. Und entscheidend: Es hört nicht auf. Sie wird auf der Plantage geschlagen und vergewaltigt, sie flieht. Sie muss morden, um zu entkommen, und mit der Schuld leben. Sie lebt in einem Ghetto weiter unter den weißen Gesetzen und muss erniederigende Arbeit erleiden, wenngleich sie nur noch indirekt physisch bedroht wird. Sie flieht. Sie gelangt in eine Art schwarze Kommune und erlebt, dass sie Teile ihres Alltags selbst bestimmen kann, doch die Angst bleibt, da die Weißen die frei(er) lebenden Schwarzen als Bedrohung empfinden, die ihnen etwas wegnehmen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Zeiten der Unterdrückung die Menschen psychisch verletzt haben, ihre Seele lässt sich kaum befreien. Cora flieht wieder - ob sie die Freiheit findet, bleibt ungewiss und scheint nicht wahrscheinlich. 

Coras Erleben zeigt den Schrecken und die immer noch anhaltende Ungerechtigkeit und hält damit den Weißen in den USA, den Weißen überall auf der Welt den Spiegel vor. Die Geschichte ist noch nicht zuende.

“If you want to see what this nation is all about, you have to ride the rails. Look outside as you speed through, and you’ll find the true face of America. It was a joke, then, from the start. There was only darkness outside the windows on her journeys, and only ever would be darkness.”

Ich denke, Underground Railroad ist in seiner Andersartigkeit ein spannendes Buch, ein herausforderndes Buch und alles in allem ein lesenswertes Buch.

Colson Whitehead, Underground Railroad. Carl Hanser, München 2017.

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