Sunday, June 18, 2006

Erich Fried: Sie wird alt



In Katzenjahren gerechnet
ist sie nicht viel älter als ich
Sie bewegt sich vorsichtig:
Vom Fensterbrett springt sie
zuerst auf den Stuhl hinunter
und dann zögernd zu Boden

Sie geht langsam zu ihrem Napf:
Jede Bewegung ein Schmerz
Ich beginne aufzustehen
um ihr Futter zu geben
Ich zucke zusammen
und muß stillstehend
einatmen
ausatmen

Richtig:
Jede Bewegung ein Schmerz

aus: Erich Fried "Ein Leben in Bildern und Geschichten", Berlin 1996.

Sunday, June 04, 2006

The Serenity Prayer

In der Wohnung einer Freundin fand ich neulich eine Postkarte mit einem mir immer mal wieder begegnenden Text.
(Nicht zuletzt kenne ich ihn in einer englischen Fassung aus dem Vorspann einer meiner älteren CDs, nämlich "I do not want what I haven't got" von Sinead O'Connor, 1990, aber das nur am Rande.)

Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann, den Mut,
Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Ich kannte mehrere, leicht verschiedene Fassungen, außerdem besagte englische Version. Frage: Was ist denn nun das "Original"?
Überraschenderweise fand ich heraus, dass der Verfasser ein Amerikaner ist. Ein Theologe, Philosoph und Politikwissenschaftler sogar, Reinhold Niebuhr (1892-1971). Bei dem Namen war ich erst verwirrt, aber ja, er ist Amerikaner und das Originalzitat daher englisch. In einer leicht abgeänderten Form ist The Serenity Prayer übrigens das Leitmotto der Anonymen Alkoholiker in den USA. Wie ich las, war Niebuhr nicht nur Kritiker des Kommunismus, sondern hatte bereits zu Beginn der großen (Auto-)Industrialisierungsphase etwas gegen die Selbstgerechtgkeit der USA. Wieder etwas gelernt.
God, give us grace to accept with serenity
the things that cannot be changed, courage
to change the things which should be changed,
and the wisdom to distinguish the one from the other.