Sunday, April 28, 2019

Patrick Süskind - Die Taube

Innerhalb eines Tages durchlebt Jonathan die schlimmste Krise seines über 50 Jahre langen Lebens. Er trifft plötzlich auf eine Taube auf dem Korridor vor seinem kleinen Mansardenzimmer in Paris. Er erschrickt wortwörtlich fast zu Tode, kann seinen Alltag als Wachmann einer Bank kaum bewältigen, sieht sein Leben scheitern in vielfältiger Weise (wobei das schlimmste, das ihm an diesem Tag tatsächlich passiert, ein Riss in seiner Uniformhose ist) und beschließt schließlich seinen Selbstmord.
Doch wie zuvor seine Phantasien, seine Dienstwaffe zum Angriff auf die bedrohlich scheinenden Mitmenschen zu gebrauchen, setzt er auch diesen Vorsatz nicht um:
"Er war nicht der Mensch dazu. Er war kein Amokläufer, der aus seelischer Not, aus Geistesverwirrung oder aus spontanem Haß ein Verbrechen beginge; und zwar nicht, weil ihm ein solches Verbrechen als moralisch verwerflich erschienen wäre, sondern einfach deshalb, weil er überhaupt unfähig war, sich tätlich oder wörtlich zu äußern. Er war kein Täter. Er war ein Dulder."
Derart ist die intensive Charakterstudie, die Patrick Süskind (*1949) an diesem bemitleidenswerten, vereinsamten, aber zugleich auch unglaublich langweiligen Menschen betreibt, dass man den kurzen Band nahezu verblüfft beiseite legt und staunt. Zur angenehmen und unterhaltsamen Lektüre kann Die Taube nicht zählen, wohl aber zur beeindruckenden.

Patrick Süskind, Die Taube. Diogenes, Zürich 2013.

Saturday, April 27, 2019

Martin Walker's Bruno series

Martin Walker's (*1947 in Scotland) Bruno Courrèges (chef de police) is a police officer in the fictional small town of Saint-Denis in the  Périgord region in France.

#1 Bruno, Chief of Police / Bruno, chef de police (2008)
#2 The Dark Vineyard / Grand Cru (2009)
#3 Black Diamond / Schwarze Diamanten (2010)
#4 The Crowded Grave / Delikatessen (2011)
#5 The Devil's Cave / Femme Fatale (2012)
#6 The Resistance Man / Reiner Wein (2013)
#7 Children of War / Provokateure (2014)
#8 The Patriarch / Eskapaden (2015)
#9 Fatal Pursuit / Grand Prix (2016)
#10 The Templars' Last Secret / Revanche  (2017)
#11 A Taste for Vengeance / Menu Surprise (2018)
#12 The Body in the Castle Well (to be published June 2019)

Martin Walker - Schwarze Diamanten

Dies ist der dritte Band von Martin Walkers Reihe um Bruno, Chef de police, in dem kleinen beschaulichen Städtchen im Perigord. Das Cover der Diogenes-Ausgabe verrät es, hier sind Schwarze Diamanten keine Edelsteine, sondern Trüffel. Im Nachbarörtchen werden sie auf dem Markt gehandelt, aber es gab Beschwerden über minderwertige Ware und Betrug. Bruno wird hinzugezogen. Doch kaum hat er auch nur begonnen zu recherchieren, da verdrängt der Mord an einem (Jagd-) Freund Hercule alles andere. Gleichzeitig entspinnt sich ein Bandenkrieg zwischen den schon lange ansässigen Vietnamesen und den nach Frankreich drängenden Chinesen. Was hatte Hercule mit all dem zu tun?

Man sollte meinen, bei diesen schon komplexen Handlungssträngen täte der Autor gut daran, nicht noch mehr in diesen Roman hineinpacken zu wollen, doch er mischt noch private Dramen (Isabelle, Pamela - wie soll sich Bruno da entscheiden?) und Lokalpolitik (Bürgermeisterwahlen) dazu. Nicht zu vergessen, dass ausführlich über Trüffelsuche und Zubereitung und Verzehr derselben berichtet werden muss.
So erscheint dann die Aufklärung der Verbrechen am Ende auf den letzten Seiten etwas sehr gerafft, einige Fäden bleiben lose in der Luft, ohne dass ein Täter gefasst oder gar benannt werden kann. Den Krimileser stellt dies nicht zufrieden, wer aber die französische Atmosphäre und die Gesellschaft des liebenswerten Bruno mag, der freut sich schon auf den nächsten Band.

Martin Walker, Schwarze Diamanten. Diogenes, Zürich 2012. 

Thursday, April 25, 2019

Karen Thompson Walker - Ein Jahr voller Wunder

Dystopien sind in auf dem Buchmarkt - und in der Tat ist es angesichts der vielen Tendenzen zu Katastrophen auf diesem Erdball vielleicht auch nicht abwegig, sich über mögliche tragische Zukunftsversionen Gedanken zu machen. Das heißt leider nicht, dass jede Dystopie es verdient publiziert zu werden. Und nicht jede Geschichte muss in das Setting einer solchen eingebettet werden.
Ein Jahr voller Wunder von Karen Thompson Walker handelt von der jungen Julia und ihrer Familie in Kalifornien. Die Handlung umfasst etwa ein Jahr (siehe Titel) und in diesem Jahr geschieht die Katastrophe, mit der niemand gerechnet hat: Die Erde dreht sich immer langsamer, die Abschnitte von Tag und Nacht verlängern sich, der 24-Stunden-Takt passt nicht mehr zu den natürlichen Gegebenheiten. Die Autorin entwirft vielfältige Konsequenzen, die diese Verlangsamung auf die Erdenbewohner hat, auf Tiere, Pflanzen und Menschen. Das, was Julia aber am meisten beschäftigt, ist das, was junge Menschen überall beschäftigt: Ihre Beziehungen zu Mitschülern, Freunden, der Familie und der Nachbarschaft. Mit durchaus geschärftem Blick beobachtet sie deren Verhalten, das zum Teil durch Veränderungen der Umwelt beeinflusst wird, zum Teil aber auch nicht. Sie hat Angst, Außenseiter zu sein, beobachtet mit Furcht die auseinanderbrechende Ehe ihrer Eltern, sieht Veränderungen in ihrem alternden Großvater und verliebt sich - natürlich.
Während Thompson Walker zwar die Konsequenzen der verlangsamten Erdrotation durchaus in ihre Geschichte einbindet, wäre sie für Julias Geschichte nicht unbedingt nötig gewesen. Im Grunde ist es eine - durchaus gut erzählte - Coming-of-Age Story mit einer Umverpackung aus Katastrophe, die nicht vollständig erklärt wird. Was sie ausgelöst hat, bleibt offen. Ob Überleben möglich sein wird, bleibt offen. Ob Julia noch glücklich werden kann, bleibt offen. Das ist, gelinde gesagt, unbefriedigend...

Karen Thompson Walker, Ein Jahr voller Wunder. Hörverlag 2013. 

Tuesday, April 23, 2019

William Shakespeare - Macbeth

Diese Hörspielfassung von William Shakespeares Macbeth lässt sprechertechnisch keine Wünsche offen, namhafte Schauspieler wirkten in der 80er Jahren an der Aufnahme mit und spielen ihre Rollen mit Nachdruck. Die Soundeffekte sind meistens dezent gehalten und untermalen das szenische Spiel, so dass man sich gut auf den Text konzentrieren kann. Es handelt sich um die Übersetzung von Dorothea Tieck aus dem frühen 19. Jahrhundert, entsprechend ist der Sprache nicht immer ganz leicht zu folgen - zum Glück ist der Plot ja bekannt und bedurfte nur einer Auffrischung. Etwa zwei Stunden nimmt die Inszenierung in Anspruch, immerhin ist es Shakespeares kürzestes Drama. Besonders beeindruckend waren die Hexenszenen...

William Shakespeare, Macbeth. DAV 2014 (nach einer Aufnahme des SRG/BR, 1968).

Monday, April 22, 2019

Else Ury - Nesthäkchen und ihre Puppen

Ganze Generationen von jungen Mädchen lasen und liebten die Geschichten um das Nesthäkchen, das blonde Mädchen Annemarie, deren Leben Else Ury in zehn Bänden verewigt hat.
Ury, geboren 1877 in Berlin, entwarf in Nesthäkchen und ihre Puppen und den Folgebänden eine gut bürgerliche und sehr deutsche Berliner Familie, in der die jüngste Tochter wohl behütet und wohlerzogen aufwächst. Sie dient gleichwohl als Prototyp des perfekten Mädchens - der Vorstellung ihrer Autorin und der Zeit entsprechend.
Heute gelesen schreckt man an vielen Stellen zurück, die aus demokratischer, ideologischer und emanzipatorischer Sicht untragbar sind, wenn man sie vom heutigen Kenntnisstand aus bewertet. Da die Reihe in einem Zeitrahmen von 1913 bis 1925 erschien, also auch den ersten Weltkrieg umfasst (der vierte Band ist entsprechend sogar Nesthäkchen und der Weltkrieg betitelt und war äußerst beliebt) wäre dies selbstverständlich nicht fair. Das Ideal, das Else Ury in und mit Nesthäkchen stellvertretend für andere junge Mädchen entwirft, erscheint uns heute dem in der Ideologie des Nationalsozialismus verkörperten Frauenbild sehr in die Hände zu spielen - der große Erfolg der Reihe wirkt vor diesem Hintergrund sehr naheliegend und verständlich.
Befasst man sich aber mit der Autorin, so ist man überrascht zu lesen, dass ihre Familie jüdischen Glaubens war. Die Familie Ury war seit Generationen in Deutschland und assimiliert und gilt als patriotisch - was auch zu Else Urys Familienbild und Ideologie passt. Nesthäkchen weist keinerlei Hinweise auf die jüdische Kultur oder Religion auf. Der Glaube an Deutschland und "deutsche Werte" war so tief verwurzelt, dass die Urys in den 30er Jahren den richtigen Zeitpunkt für eine Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland verpassten und ermordet wurden. Die Autorin selbst starb 1943 in Auschwitz.
Mit diesem Hintergrundwissen wirkt das so deutsche brave Nesthäkchen, das allen gefallen und es allen recht machen will und strebsam, tugendhaft, fleißig und brav sein will, ganz anders...
Public Domain Ausgabe 
älteres Cover, Ausgabe unbekannt


Sunday, April 21, 2019

Daniel Defoe - Robinson Crusoe

Daniel Defoe, Robinson Crusoe.
Sterling, New York  2011.
Daniel Defoes Klassiker Robinson Crusoe von 1719 gilt als einer der ersten englischen Romane, Defoe ist damit Begründer dieser Gattung. Der Roman inspirierte eine ganze Reihe von ähnlichen Geschichten (Robinsonaden) bis in die heutige Zeit.
In Teilen im Original gelesen (in der sehr schönen Sterling Classics Edition), zusammenfassend als Audiobook gehört, ist die Geschichte für mich trotz der Sprache und historischen Hintergrund heute noch interessant und bedeutsam. Wie überlebt ein Mensch - praktisch-physisch und geistig-psychisch - in einer solchen Extremsituation? Wie gestaltet er den Alltag, wie bleibt er gesund? Dazu kommen so viele andere Bedeutungsebenen und Bezugspunkte (Kolonialisierung, Gesellschaftskritik, Religion, ...), dass dieser Roman definitiv seinen Klassiker-Status verdient hat. Interessant auch, dass meine Sterling Classics Ausgabe am Ende gleich noch mehrere Seiten Essay-Fragen mitliefert, mit denen man weiterdenken und re-evaluieren kann. Das muss ich nicht tun, ich kann mich auch so an der Geschichte erfreuen..
Daniel Defoe, Robinson Crusoe.
Phonetics Group, Leipzig 2006.

Friday, April 19, 2019

A.M. Holmes - Auf dass uns vergeben werde

Ja.
Und nun?
Selten, dass ich gar keine Idee habe, wo und wie ich anfangen soll, über ein Buch zu schreiben.
Was ich sicher weiß:
A.M. Holmes ist eine zweifellos erfolgreiche und anerkannte Autorin, deren Bücher zahlreiche Preise gewonnen, sie unterrichtet kreatives Schreiben in Princeton.
Ihr Roman Auf dass uns vergeben werde (im Original 2012 erschienen) hat 2013 den Women's Prize for Fiction erhalten. Die deutsche Hardcover-Fassung umfasst 672 Seiten, die offensichtlich gekürzte Audiobook-Fassung von GoyaLit bringt dies auf sechs CDs unter, gut gelesen von Jürgen Uter.

Beruhigend ist, dass es anderen Rezensenten offensichtlich ähnlich geht, viel Ratlosigkeit angesichts dieser Achterbahnfahrt von einem Roman. Fasst man den Inhalt zusammen, so gibt dies doch nicht wieder, worum es geht.
George und Harry Silver sind Brüder, ersterer ein zu Gewalt neigender Egomane, der zum Mörder wird, letzterer ein farbloser Geschichtsprof, der sich noch nicht einmal für seinen Forschungsschwerpunkt (Nixon) so richtig begeistern kann und der charakterlich zunächst keine Stärken zu haben scheint. Er lässt sich von Georges Frau verführen und löst damit die Kette der brutalen Ereignisse aus. Harry strandet mit Georges Haus, den Haustieren und Kindern - und mit der Verantwortung für eine Familie, die er sich nicht ausgesucht hat. Unerwartet und scheinbar charakterfremd wächst er in die Rolle hinein und wird zu einem besseren Menschen, von dem alle um ihn herum profitieren.
Vieles an diesem Roman war irritierend. Ich nehme an, das ist Absicht.
Stereotype, wo man hinschaut. Abstruse Plot-Abschnitte, krasse Wechsel, leicht (und tatsächlich) verrückte Charaktere. Handlungsstränge, die scheinbar ins Nirgendwo führen, aber natürlich irgendwie scheinbar Harry verändern. Nicht plausible Jugendliche. Bizarre Sexbesessenheit der meisten weiblichen Charaktere, die alle Harry wollen (warum genau?). Manches erinnert an Paul Austers Parallelwelten. Dann wieder so offensichtlich satirische Passagen und trockener Humor, dass mir beim Hören ein lautes Lachen entfuhr. Aber dann dieses unsäglich amerikanische Mega-Happy-End - im Ernst?
Der Roman hat Spaß gemacht, war aber dennoch anstrengend und wartet mit keiner ernstzunehmenden Botschaft auf, es sei denn: Wirf den Ballast deines alten, miesen, langweiligen Lebens ab (am besten mit Hilfe eines afrikanischer Zaubertranks) und werde zum Übermenschen, der alle retten kann durch bloße Anwesenheit oder das Schmieren von Pausenbroten.
Selten, dass ich gar keine Idee habe, wo und wie ich aufhören soll, über ein Buch zu schreiben.
Und nun?
Ja.

A.M. Holmes, Auf dass uns vergeben werde. GoyaLit 2014.

Website der Autorin

Thursday, April 18, 2019

Jacques Berndorf - Eifel-Müll

Baumeister genießt die Ruhe und Einsamkeit in seinem Eifeler Garten - da weiß man schon, dass das nicht lange anhalten wird! Ein anonymer Anrufer informiert ihn über eine Leiche auf einer wilden Müllkippe. Nati, eigentlich Nathalie Cölln, ist allseits bekannt im Umkreis, ein "wilder Feger", mim liegt sie nackt im Wald, entsorgt wie die alten Sofas und die Giftfässer um sie herum.
Unterstützung bei seinen Ermittlungen erhält Baumeister von Emma (die unruhig auf eine Diagnose wartet und sich ablenken muss), Rodenstock (völlig durcheinander aus Sorge um Emma) und Dina (Polizistin auf (Zwangs-) Urlaub). Zunächst gibt es keine Spuren, zu viele und zu wenige Verdächtige zugleich. Natis Freund ist in der gleichen Nacht durch einen Unfall umgekommen, ihre Mutter verkaufte des Geldes wegen die Tochter an einen Pulk reicher Geschäftsleute, die mit Müll ihr Geld verdienen... Die Rekonstruktion von Natis letztem Tag birgt den Schlüssel, wen hat sie zuletzt getroffen?

Auf der Plus-Seite für Eifel-Müll (erstmals erschienen 2000) von Jacques Berndorf (alias Michael Preute) stehen wie immer das Eifeler Setting, die Protagonisten, aber auch die anderen, gut gezeichneten Charaktere, die interessante Thematik (Was weiß man schon über Müll? Hier kommt Berndorfs journalistischer Background einmal mehr durch.) und die ordentlichen Ermittlungen, bei denen das Team nach und nach die Puzzleteile zusammensetzen. Wobei ihnen in diesem Fall auch einige Teile "reingereicht" werden, weil ihnen verblüffenderweise die Leute mehr erzählen als der Polizei. Vor diesem Hintergrund ist die Zusammenarbeit zwischen Baumeister und der Mordkommission manchmal etwas unglaubwürdig, mal sprechen sie miteinander, mal gerade nicht, dann doch... Die Lesung durch den Autor ist sehr gut (vielleicht nicht excellent), aber passt eben hundertprozentig zu dem Protagonisten. Etwas unbefriedigend ist allein die Auflösung, bei all den komplexen Zusammenhängen der Müllbranche ist es dann doch "nur" die private Tragödie.

Jacques Berndorf, Eifel-Müll. Radioropa 2009. 

Wednesday, April 17, 2019

John Boyne - Die Geschichte der Einsamkeit

Der Roman Die Geschichte der Einsamkeit von John Boyne startet mit diesem schönen Zitat von E.M. Foster:
"Über das Leben zu schreiben ist leicht - es zu leben ist sehr viel schwieriger."
Boyne schreibt über das Leben eines katholischen Paters in Irland - man ahnt schon an dieser Stelle, worum es gehen könnte. In 16 Kapiteln lässt er Odran Yates berichten, jedes Kapitel ist übertitelt mit der Jahreszahl. Diese reichen von der Jugend Odrans 1964 bis in die Jetztzeit 2013, zusammen mit seinen Erinnerungen springt der Leser zwischen den Jahren hin und her. Die Themen, mit denen sich Odran in seiner persönlichen Lebensrückschau beschäftigt, sind seine Familiengeschichte, seine ganz persönlichen Erfahrungen und vor allem seine Ausbildung zum Priester und die Geschehnisse um seinen Freund Tom Cardle.
Odrans Familienleben wird nachhaltig durch den dramatischen Selbstmord des Vaters erschüttert. Danach wird die Mutter hochgradig religiös und drängt ihn zum Priesteramt. Er glaubt allerdings auch daran, dass dies der richtige Weg für ihn ist, entsprechend hat er kaum Schwierigkeiten, sich an das rigide Leben während der siebenjährigen Ausbildung zu gewöhnen. Allerdings beobachtet er bei anderen durchaus Probleme - zum Beispiel bei seinem Zimmergenossen Tom. Jedoch verschließt er - naiv - die Augen vor den Zusammenhängen.
Exemplarisch an Tom Cardle zeigt Boyne die Auffälligkeiten eines pädophilen, irischen Priesters - sein Verhalten gegenüber kleinen Jungen und den Messdienern - und vor allem die Reaktionen der kirchlichen Obrigkeit darauf: Häufige Versetzungen, abgelegene Posten, Drohungen gegen die Opfer bei Beschwerden und anderes, aber keine Anzeigen. Es wird deutlich, dass Fehlverhalten und Schuld nicht nur bei dem tatsächlichen Täter, sondern beim gesamten kirchlichen Apparat vorliegen.
Parallel dazu erlebt Odran die voranschreitende gesellschaftliche Veränderung in Irland in technischer, globaler, aufklärerischer und emanzipatorischer Hinsicht - von Kirchenseite oft nur als moralischer Verfall gewertet und verurteilt, sieht er schon bald die Verlogenheit dieser kirchlichen Moral. Obwohl er selbst unter den Restriktionen der Kirche zu leiden hat, bleibt er seltsam neutral und inaktiv, er kämpft weder für sich noch für andere. Erst spät erkennt er seine eigene Mitschuld, als sie ihm durch Toms Verurteilung vor Gericht und durch die mediale Aufmerksamkeit überdeutlich vor Augen geführt wird. Als Leser bleibt man skeptisch, wie weit seine Naivität wirklich reichte oder ob es vielmehr Selbstbetrug war, der ihn daran gehindert hat zu erkennen, was rund um ihn vor sich ging. Dennoch scheint ein Neuanfang, ein Aufbruch für Odran möglich, wenngleich dieser offen bleibt.
Die Geschichte der Einsamkeit ist eine beeindruckende Reflexion über das große Unrecht der katholischen Kirche (nicht nur) in Irland, für die Boyne eine Stimme wählt, mit der man eine sehr persönliche Sichtweise, eine Innensicht, einnehmen kann. Dass dieser Erzähler nicht verlässlich ist, ist dabei durchaus gewollt wie auch die Skepsis, mit der man nach dem Lesen zurückbleibt.

John Boyne, Die Geschichte der Einsamkeit. Piper, München/Berlin 2015.

Thursday, April 11, 2019

Beckmann/Tauber/Menger - Die drei Fragezeichen - Das Dorf der Teufel

Das Dorf der Teufel ist der zweite Band der drei Fragezeichen, der als Graphic Novel erschienen ist. Als Hörer (und nur selten Leser) der Reihe fand ich einiges irritierend. Justus, Peter und Bob entsprachen nicht meiner Idee der drei Protagonisten und sie wirkten viel zu jung für meinen Geschmack.
Die Story entsprach prinzipiell durchaus einem typischen DDF-Fall: Sie suchen zusammen mit Morton nach einem verschwundenen Ehemann und landen dabei in einem Dorf, in dem die Bewohner sich merkwürdig verhalten. Schnell wird die Lage bedrohlich, denn dieses Dorf will nicht, dass seine Geheimnisse enthüllt werden. Der Spannungsbogen gelingt, dennoch ist die Story auf den 128 Seiten schnell zuende, eine Länge, bei der für erzählerische Tiefe kein Platz bleibt.
Die Zeichnungen sind durchgehend recht düster, klar und tragen phasenweise das Rot und Blau der drei Fragezeichen, was ein netter Effekt ist. Der Stil war vielleicht auch deswegen so gewöhnungsbedürftig, weil man durch die Cover-Art der Hörspiele anderes (und fröhlicheres) mit den drei Fragezeichen verbindet.

John Beckmann und Christopher Tauber (Illustratoren), Ivar Leon Menger (Autor), Die drei Fragezeichen - Das Dorf der Teufel. Kosmos, Stuttgart 2017.

Wednesday, April 03, 2019

Terry Pratchett - Steife Prise

Jens Wawrczeck liest den letzten Roman aus der Sub-Reihe der Wache der Scheibenwelt von Terry Pratchett wie gewohnt meisterhaft, individuelle Stimmen der Charaktere und Dialekte inbegriffen. Hörgenuss.
In Steife Prise ist Kommandeur Mumm gezwungen mit seiner Frau auf deren Familienlandsitz Urlaub zu machen - was er als Workaholic natürlich nicht kann und will. So wundert es nicht, dass er auch fernab der Metropole schnell auf kriminelle Missstände aufmerksam wird. Diese haben - neben Schmuggel und Drogenhandel - auch in dramatischer Weise Rassismus und Unterdrückung einer ganzen Rasse - den Goblins - zum Thema. Die Goblins wenden sich an den berühmten Polizisten, um Gerechtigkeit zu erfahren. Mumm manövriert sich (nicht ohne Selbstzweifel) durch ein Gewirr von konservativen Landbewohnern, schlecht ausgebildeten Polizisten, ungerechten Richtern und brutalen Verbrechern und wird am Ende wieder als Held und Retter gefeiert.
Steife Prise wird bestimmt durch eine düstere Atmosphäre, die natürlich auch dem Thema geschuldet ist. Dennoch gibt es natürlich den üblichen Pratchett-Humor. Die ernste Botschaft kommt aber über und Sam Mumm gewinnt einmal mehr an Größe und Respekt, beides etwas, was dem Autor in seinem letzten Roman über diesen starken Scheibenwelt-Charakter offensichtlich wichtig war.

Terry Pratchett, Steife Prise. Hörverlag 2012.