Ury, geboren 1877 in Berlin, entwarf in Nesthäkchen und ihre Puppen und den Folgebänden eine gut bürgerliche und sehr deutsche Berliner Familie, in der die jüngste Tochter wohl behütet und wohlerzogen aufwächst. Sie dient gleichwohl als Prototyp des perfekten Mädchens - der Vorstellung ihrer Autorin und der Zeit entsprechend.
Heute gelesen schreckt man an vielen Stellen zurück, die aus demokratischer, ideologischer und emanzipatorischer Sicht untragbar sind, wenn man sie vom heutigen Kenntnisstand aus bewertet. Da die Reihe in einem Zeitrahmen von 1913 bis 1925 erschien, also auch den ersten Weltkrieg umfasst (der vierte Band ist entsprechend sogar Nesthäkchen und der Weltkrieg betitelt und war äußerst beliebt) wäre dies selbstverständlich nicht fair. Das Ideal, das Else Ury in und mit Nesthäkchen stellvertretend für andere junge Mädchen entwirft, erscheint uns heute dem in der Ideologie des Nationalsozialismus verkörperten Frauenbild sehr in die Hände zu spielen - der große Erfolg der Reihe wirkt vor diesem Hintergrund sehr naheliegend und verständlich.
Befasst man sich aber mit der Autorin, so ist man überrascht zu lesen, dass ihre Familie jüdischen Glaubens war. Die Familie Ury war seit Generationen in Deutschland und assimiliert und gilt als patriotisch - was auch zu Else Urys Familienbild und Ideologie passt. Nesthäkchen weist keinerlei Hinweise auf die jüdische Kultur oder Religion auf. Der Glaube an Deutschland und "deutsche Werte" war so tief verwurzelt, dass die Urys in den 30er Jahren den richtigen Zeitpunkt für eine Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland verpassten und ermordet wurden. Die Autorin selbst starb 1943 in Auschwitz.
Mit diesem Hintergrundwissen wirkt das so deutsche brave Nesthäkchen, das allen gefallen und es allen recht machen will und strebsam, tugendhaft, fleißig und brav sein will, ganz anders...
Public Domain Ausgabe |
älteres Cover, Ausgabe unbekannt |
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