Tuesday, January 31, 2017

Patrick Ness - Die Flucht

Dieses Buch hätte ich niemals in die Hand genommen, wenn A Monster Calls von Patrick Ness mich nicht so begeistert und berührt hätte. Die Covergestaltung ist wenig ansprechend, der Titel nichtssagend, außerdem ist Science Fiction kein Genre, das ich öfter auswähle.
New World - Die Flucht ist der erste Band einer Jugendbuchreihe. New World, das ist ein ferner, aber erdenähnlicher Planet, auf dem Menschen sich in der Hoffnung auf ein neues friedvolles Leben angesiedelt haben. Doch leider hat sich die Hoffnung nicht erfüllt - ein Virus hat alle Männer befallen, jeder kann ihre Gedanken hören, der Lärm treibt viele an den Rand des Wahnsinns, nichts bleibt geheim, so meint man. Der 13jährige Todd wächst ohne Mutter auf, denn in seinem ganzen Heimatdorf Prentisstown gibt es keine Frauen mehr, auch daran ist der Virus schuld. Da er der letzte Junge seines Dorfes ist, der noch nicht 14 und damit erwachsen ist, verbringt er viel Zeit allein bzw. mit seinem Hund Manchee. Auch dessen (eher schlichte) Gedanken kann jeder hören, auch die der Eichhörnchen, Schafe oder Krokodile. Es ist eine lärmende Welt, in der sich Todd bewegt - als er eines Tages plötzlich auf eine Stille trifft. Ein Fleck des Schweigens, der ihn zutiefst beunruhigt - noch mehr, als er herausfindet, dass das Schweigen von einem Mädchen ausgeht!
Doch er hat nicht lange Zeit, sich von dieser Entdeckung zu erholen, denn natürlich kann er seine Entdeckung nicht verbergen, das Misstrauen der Männer von Prentisstown ist groß und sie wollen aus Todd herauskriegen, was genau er gesehen hat. Die Reaktion seiner zwei Ziehväter erschreckt ihn, denn sie schicken ihn mit einem gepackten Rucksack fort - er soll in den nächsten Ort fliehen, in dem seit Jahren niemand mehr war. Kurz nach seinem eiligen Aufbruch trifft er erneut auf das Mädchen, Viola, und als sie beide von Aaron, dem gewaltbereiten, wahnsinnigen Priester, bedroht werden, entscheidet er sich, ihr zu helfen.
Was dann folgt, ist eine lange und abenteuerliche Flucht, dessen Ziel Haven ist, dem Hauptort auf New World. Die Verfolger aus Prentisstown sind ihnen dicht auf den Versen und die Menschen, auf die sie treffen, sind misstrauisch den Fremden gegenüber. Nur sehr langsam entdecken Todd und Viola, dass alles, was Todd bisher über sein Heimatdorf zu wissen glaubte, nicht die Wahrheit ist und es beginnt ein schwerer Prozess und ein Kampf um gegenseitiges Vertrauen und die eigene Identität.

Ness wählt für seinen Roman die Perspektive eines Ich-Erzählers. Diese jedoch trotzdem etwas distanziert, denn der für diese Perspektive typische Stream-of-Consciousness, der ja dem Gedankenlärm entsprechen müsste, ist deutlich gebremst, man erfährt eben nicht alles direkt, sondern es wirkt eher wie ein Er-Erzähler. Trotzdem werden die inneren Konflikte Todds deutlich, von einem naiven und etwas quengeligen Teenager entwickelt er sich in raschem Tempo zu einer reflektierenden, sich und andere hinterfragenden Persönlichkeit. Seine Entwicklung entsteht aus der Beziehung zu Viola, die ihn durch ihre Gedankenstille dazu zwingt, nachzudenken, Menschen wirklich wahrzunehmen und ihre Bedürfnisse zu erkennen. Ein weiterer, unerwartet starker Charakter ist der zunächst als schlicht gezeichnete Hund Manchee, der aber durch seine bedingungslose Freundschaft und Freundlichkeit auch zur Messlatte für Todds eigenes Verhalten wird. 
Vielleicht könnte man argumentieren, dass die Flucht auch auf 100-150 Seiten weniger gut hätte dargestellt werden können, doch das Erzähltempo ist dennoch zügig, Langeweile kommt nicht auf und die Charaktere und ihre Beziehung entwickeln sich kontinuierlich. Der Band endet mit einem fürchterlichen Cliffhanger, mehr sei nicht gesagt - das Lesen des zweiten Bandes ist im Grunde unvermeidlich. 
Patrick Ness hat mit New World ein interessantes Setting geschaffen, das viele grundlegende und philosophische Fragen über das Menschsein und die eigene Identität stellt.

Patrick Ness, New World - Die Flucht. Ravensburger 2009. 



Tuesday, January 24, 2017

Lars Kepler - Ich jage dich


Joona Linna hat einiges durchgemacht, als er heruntergekommen und mit Schmerzen wieder in Stockholm auftaucht. Sein Stelle bei der Landeskriminalpolizei ist inzwischen mit der hochschwangeren Margot besetzt und sie ermittelt in einer schlimmen Mordserie. Der Täter scheint seine weiblichen Opfer zunächst zu verfolgen und zu beobachten, lädt dann einen Film darüber hoch, um erst danach in das Haus der Opfers einzudringen und mit zahlreichen Messerstichen zu töten. Dabei hinterlässt er scheinbar Hinweise durch die Inszenierung der Opfer und und bewusste Positionierung von symbolischen Gegenständen.
Erste Hinweise ergeben einen Zusammenhang mit einem früheren Straftäter, der mehr über den Täter wissen könnte, aber durch seine Heroinabhängigkeit und einen Unfall nur ein sehr unzuverlässiger Zeuge ist, weil seine Erinnerungen trügerisch sind. Daher wird der Psychologe Erik Maria Bark, bekannt aus Der Hypnotiseur, Band 1 der Reihe, hinzugezogen, um unter Hypnose mehr aus ihm herauszubekommen. Doch die Ereignisse überschlagen sich - Erik muss feststellen, dass er alle bisherigen Opfer kannte - eine Tatsache, die ihn plötzlich zu einem Verdächtigen macht. Er muss fliehen... Gleichzeitig wird der Heroinabhängige rückfällig, verhaftet und weggesperrt - wie soll er jetzt noch helfen können, den wahren Täter zu finden? Joona, dem Margot mehr Einblick in die Ermittlung gewährt, als zu erwarten war, will den Fall aufzuklären, den Täter finden und Erik entlasten - und muss daher einige krasse Entscheidungen treffen...
Auch der fünfte Fall von Lars Kepler besticht durch einige überraschende und komplexe Plotwendungen, wenngleich die Protagonisten mir in diesem Band weniger gefallen haben. Joona bleibt ein Fremder, seine Erlebnisse haben ihn verändert, aber der Leser war nicht dabei und muss nun sehen, wie er mit dieser skrupelloseren Version zurechtkommt, während Margot als neue Ermittlerin in ihrer Eifrigkeit trotz Schwangerschaft etwas überzogen wirkt. Glaubwürdiger wird der Thriller dadurch nicht, wenngleich seine Vielschichtigkeit, die verschiedenen Perspektiven und das rasante Tempo Pluspunkte der Reihe bleiben.
(Außerdem mochte ich Erik Maria Bark schon im ersten Band nicht...)


Lars Kepler, Ich jage dich. Lübbe Audio 2015.

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Sunday, January 22, 2017

Brooke Davis - Noch so eine Tatsache über die Welt

Die Australierin Brooke Davis schaffte 2014 den Durchbruch mit ihrem Debütroman Lost & Found, einem deutlich eingängigeren Titel als der, der im Deutschen für den Roman gewählt wurde: Noch so eine Tatsache über die Welt. 

Auf dem mitternachtsblauen, mit Sternen übersähten Covers ist als weißer Scherenschnitt ein kleines Mädchen zu sehen, Millie.
Millie ist sieben, ihr Vater ist vor kurzem gestorben und ihre verzweifelte Mutter lässt Millie einfach in einem Kaufhaus zurück. Sie hat Angst, das Kaufhaus zu verlassen, weil sie denkt, ihre Mutter kommt dorthin zurück, um sie abzuholen, daher versteckt sie sich zunächst dort.
Karl ist 87 und gerade ins Altersheim gezogen, wo er es schrecklich findet - deswegen haut er ab und setzt sich erst einmal ins Kaufhaus. Dort begegnet er Millie.
Gegenüber von Millies Haus wohnt Agatha (82), die seit dem Tod ihres Mannes ihr Haus nicht mehr verlassen hat und deren einziger Kontakt zur Außenwelt vorübergehende Passanten sind, die sie beschimpft.

Aus den Perspektiven dieser drei skurillen Protagonisten wird Noch so eine Tatsache über die Welt erzählt. Karl schickt Millie schließlich nach Hause und ermöglicht ihr die Flucht, als sie vom Jugendamt abgeholt werden soll. Agatha wird auf das Mädchen, das offensichtlich allein ist, aufmerksam und verlässt schließlich ihr selbstgewähltes Gefängnis, um dem Kind zu helfen. In Millies Haus finden sie einen Reiseplan der Mutter, die offensichtlich aus Australien weg will. Agatha und Millie nehmen einen Bus, um noch rechtzeitig Melbourne zu kommen, von wo die Mutter abfliegen will. Per Zufall sieht Karl die beiden am Busbahnhof und schließt sich ihnen an. Es entwickelt sich ein abgefahrener Roadmovie, bei dem jeder der drei viel über sich, den Tod, die Liebe und das Leben lernt - vor allem, dass letzteres trotz großer Verluste weitergehen kann und dass zwischen tot sein und alt sein ein Unterschied besteht.

Es ist eine ziemlich ungewöhnliche Mischung, die der Leser in diesem Roman serviert bekommt. Kleine und größere Lebensweisheiten mischen sich unter eine wilde Ansammlung von schrägen Handlungsweisen, die wohl nur Kinder und alte Menschen in ihrer Direktheit zuwege bringen. Nicht alles dabei ist liebenswert, wie man es sich wohl von diesen Charakteren und der eigenen limitierten Vorstellung von Altersweisheit erhoffen würde, einiges ist sogar grausam oder dumm. Aber der Roman macht auch klar, dass Meinungen und Enscheidungen nicht immer endgültig sind, man darf sich umentscheiden, umkehren, einen anderen Weg einschlagen, wenn man feststellt, dass die Entscheidung nicht richtig war, dass es eine bessere, lebenswertere Möglichkeit gibt. Und so finden alle drei Charaktere einen Ausweg aus ihren jeweiligen Dilemmas und auch wenn Millies Mantra "Ihr werdet alle sterben." wahr ist und bleibt, so kommt es doch viel mehr auf das Leben davor an, auf das Dazwischen von Geburt und Tod. 
"The start date and the end date are always the important bits on the gravestones, written in big letters. The dash in between is always so small you can barely see it. Surely the dash should be big and bright and amazing, or not, depending on how you had lived."


Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt. Ullstein, München 2016.

Friday, January 13, 2017

Saturday, January 07, 2017

Utsumi/Taniguchi - Von der Natur des Menschen

Jirō Taniguchi illustriert in Von der Natur des Menschen einige Kurzgeschichten des japanischen Autors  Ryuichiro Utsumi. Sofern ich dies recherchieren konnte, hat letzterer nur einen Roman geschrieben, der aber nicht in andere Sprachen übersetzt wurde. Der Illustrator hingegen hat zahlreiche Comics und Graphic Novels veröffentlicht, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden.


Die Graphic Novel enthält acht Kurzgeschichten zu unterschiedlichen Themen. Sie sind stark geprägt von der japanischen Kultur, was neue Einblicke in dortige Familienstrukuren gewährt, gleichzeitig sind die Probleme und Emotionen aber menschlich und allgemein gültig.
Die schwarz-weißen Zeichnungen und die Anordnung von Panels und Text bestechen durch Klarheit ohne auf Details zu verzichten.
Es sind anrührende Geschichten, die für gegenseitiges Verständnis und Nachsicht werben.

Utsumi/Taniguchi, Von der Natur des Menschen. Carlsen, Hamburg 2009.
 

Isabel Allende - Das Geisterhaus

Das Geisterhaus hat seinen Ursprung in einem Brief an Isabel Allendes sterbenden Großvater in Chile, während sie im Exil in Venezuela lebte und weist daher zahlreiche biographische Bezüge auf. Es erzählt die Geschichte einer chilenischen Familie in einem zeitlichen Rahmen von 1920 bis zum Beginn des Pinochet-Regimes 1973. Neben der zentralen Figur des Esteban Trueba, des ehrgeizigen, aber auch jähzornigen Familienoberhaupts, sind es die Frauen, aus deren Perpektive erzählt wird,Clara, Blanca und Alba. Jede versucht auf ihre Weise sich im bestehenden System selbst zu verwirklichen und zu überleben. Ihre Schicksale sind untrennbar mit den Familienstrukturen und dem politischen Geschehen in Chile verbunden.

In der Hörspielbearbeitung von Walter Adler kann den unterschiedlichen Perspektiven durch die verschiedenen Sprecher und Sprecherinnen Rechnung getragen werden, es entsteht eine sehr persönliche Atmosphäre, die natürlich nicht nur durch die Stimmen, sondern auch durch Allendes Schreibstil erzeugt wird.
Die Wiederbegegnung mit dem Roman in dieser Fassung hat mir Freude bereitet: Da die erste Lektüre viele Jahre zurück lag, konnte ich mich nur noch vage an die Inhalte erinnern, allerdings durchaus daran, dass mir die Figuren und der Stil gefallen haben. Es ist schön, dies bestätigt zu sehen.

Isabel Allende, Das Geisterhaus. Hörverlag 2010.

Tuesday, January 03, 2017

Ken Follett - Kinder der Freiheit

Kinder der Freiheit ist nach Sturz der Titanen (WK I) und Winter der Welt (WK II) der dritte und letzte Teil von Ken Folletts Jahrhundert-Trilogie. Er beschäftigt sich mit den Geschehnissen von 1961 bis 1989, der Zeit des Kalten Krieges.
Wie auch in den ersten beiden Romanen schildert Follett die Ereignisse durch die Brille einzelner Charaktere, die er in Russland, Deutschland und den USA positiniert. Mit fast 30 Jahren umspannt Kinder der Freiheit eine etwas längere Zeitspanne als die ersten beiden, weswegen Follett trotz des Umfangs von über 1200 Seiten (entsprechend 12 CDs) eine Auswahl in der Schilderung der Ereignisse treffen musste. Zentrale Themen sind der Mauerbau in Berlin und die Trennung von Ost- und Westdeutschland, die Bürgerrechtsbewegung der USA um Martin Luther King, das atomare Wettrüsten der Supermächte und die Schweirigkeiten im Kommunismus um Reformen in einem korrupten System.
Seine fiktiven Charaktere stellt Follett als Berater, Geliebte, Journalistin o.ä. an die Seite oder in die Nähe der realen historischen Figuren, was ihm ermöglicht, Fiktion und Geschichte parallel zu erzählen. Auch werden wieder originale Passagen eingebaut (unausweichlich z.B. dabei die Rede Martin Luther Kings oder Kennedys "Ich bin ein Berliner") und wichtige Ereignisse nacherzählt. Im Vergleich zu den Vorgängerbänden bleiben die Charaktere aber isolierter und haben weniger Querverbindungen und Beziehungen zueinander als ihre Vorfahren. Zwar erzählt Follett wie gewohnt anschaulich und durchaus emotional, aber man hat mehr das Gefühl einer Aneinanderreihung der historischen Ereignisse als das einer logisch gewachsenen Erzählung. Dieses Gefühl hatte ich bei Sturz der Titanen und Winter der Welt nicht, soweit ich mich erinnere. Ich habe durchaus den Eindruck, dieser Band ist der schwächste der drei - er bleibt auch unter seinen Möglichkeiten. Viele der Ereignisse hätten eine vielschichtigere Darstellung aus mehreren Perspektiven verdient gehabt, wie es in Band I und II auch umgesetzt wurde, hier begnügt sich Follett oft nur mit einer Sichtweise, welche landesintern bleibt. Im Vergleich zu den vorangegangenen Generationen blieben mir die Charaktere in Kinder der Freiheit fremder, ihnen fehlte - für mein Empfinden - die Tiefe und Entwicklung.


Ken Follett, Kinder der Freiheit. Lübbe Audio 2014.