Thursday, April 22, 2021

Maja Lunde - Die letzten ihrer Art

Von den vier geplanten Bänden ihres "Klimaquartetts" hat Maja Lunde bisher drei veröffentlicht. Nach Die Geschichte der Bienen und Die Geschichte des Wassers erschien 2019 Die letzten ihrer Art.

Das verbindene Element der drei Erzählebenen ist das Przewalski-Pferd, das ursprünglich in der Mongolei beheimatete Urpferd.
Michail Alexandrowitsch Kowrow, Mitarbeiter des Zoos in St. Petersburg, macht sich im Jahr 1883 zusammen mit dem Tierfänger-Experten Wilhelm Wolf auf, um Exemplare des Urpferds zu fangen, während 1992 die Tierärztin Karin es als ihr Lebenswerk ansieht, die in der Mongolei ausgestorbenen Pferde dort wieder anzusiedeln. Der dritte Erzählstrang spielt 2064, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben ist in Norwegen aufgrund des Klimawandels zum Erliegen gekommen. Eva lebt mit ihrer Tochter auf einem Bauernhof, der ehemals zu einem Tierpark mit bedrohten Arten gehörte. Dort gibt es auch eine letzte Przewalski-Stute mit ihrem Fohlen. 

Alle Protagonisten befinden sich in schwierigen Lebenssituationen, sind mit sich und ihrer Identität nicht im Reinen und versuchen sich selbst darüber hinwegzutäuschen. Während Michail sich seine Homosexualität selbst nicht eingestehen mag, ist Karin tief entfremdet von ihrem eigenen Sohn, den diese lang andauernde Distanziertheit in die Drogensucht getrieben hat. Sie kann sich ihre Defizite als Mutter nicht eingestehen und bemüht sich stattdessen übermäßig um die Pferde. Letztere treten 2064 in den Hintergrund. Eva harrt auf ihrem Hof in einer vermeintlich sicheren Position aus, glaubt, als einzige die richtige Sicht auf die Zukunft zu haben und muss feststellen, dass sich ihre Lage alles andere als stabil ist und ihnen die Lebensgrundlage zwischen den Fingern zerrinnt. Ob der Aufbruch - was bedeutet, den Hof und die Pferde aufzugeben - eine bessere Alternative bietet, bleibt offen. 

Zwar beschäftigen sich alle Protagonisten phasenweise mit den Pferden und setzen sich mit dem Thema der Arterhaltung auseinander, dennoch bleiben sie symbolhaft. Sie werden von außen geschildert, lösen trotz der geschilderten Nähe wenig Emotionalität aus. Ketzerisch gesagt, könnte auch jede andere Tierart an ihre Stelle treten, für den Roman würde dies kaum einen Unterschied machen. Wenngleich, ähnlich wie bei Die Geschichte der Bienen schwierige Eltern-Kind-Beziehungen vorkommen, interagieren die einzelnen Ebenen wenig bis gar nicht miteinander. Ihr Zusammenhang ist lose, das offen verbindende Element der Przewalskis stellt - meines Erachtens - auch keinen tieferen Bezug her. 

Das heißt nicht, dass Die letzten ihrer Art ein schlechter Roman ist. Die einzelnen Geschichten und Protagonisten haben durchaus Tiefe und ihre Erlebnisse sind interessant, ihre unterschiedlichen Stimmen gut herausgearbeitet. Trotzdem bleibt das Gefühl, dass Idee und Konzept hier noch hätten weiter tragen können (und sollen) und vor allem das Thema des Artensterbens hätte mehr Raum bekommen sollen. So verkommt zum Randgeschehen, die Pferde als lose Verbindung der Geschichten, aber nicht als treibendes inhaltliches Element.

Maja Lunde, Die letzten ihrer Art. Hörverlag 2019.

Wednesday, April 14, 2021

Johanna Spyri - Heidis Lehr- und Wanderjahre

1880 veröffentlichte die Schweizerin Johanna Spyri ihr Buch Heidis Lehr- und Wanderjahre, das zu einem Klassiker der Kinderliteratur wurde und oft verfilmt wurde. Kinder der 80er haben die Zeichentrickserie sicher noch vor Augen...

Das Setting zu Beginn ist tragisch: Die achtjährige Heidi hat beide Eltern verloren, wurde erst von der Großmutter, dann von der Tante aufgezogen. Letztere gibt sie aber kurzerhand wegen eines guten Jobangebots bei dem grantigen Großvater väterlicherseits in den Schweizer Bergen ab. Der ist zwar wortkarg und sozial isoliert, aber dennoch dem Kind zugetan, weil es sich auch sehr angepasst und freundlich verhält. Und durch seine freundliche Art schafft es "das Heidi" leicht, auch zu den wenigen anderen Menschen, die es in der Einsamkeit der Alm gibt, freundschaftlichen Kontakt herzustellen - und zwingt damit den Großvater zumindest nicht mehr gar so unfreundlich zu sein.
Dann schlägt das Schicksal noch einmal zu, wieder in Form der etwas herzlosen Tante, die es eine gute Idee findet, Heidi nach Frankfurt zu verpflanzen, um dort einer gelähmten Tochter aus reichem Hause Gesellschaft zu leisten. Gesellschaftlich sicher ein Aufstieg, aber Heidi leidet dermaßen an Heimweh, dass sie wortwörtlich beinahe umkommt. Kurz lernt sie noch lesen und ein bisschen mehr von der Welt kennen, dann hat der Hausherr Erbarmen und lässt sie zum Großvater zurückschicken.
Mit einer aus heutiger Sicht gewissen Portion Kitsch und überzogener Selbstlosigkeit und Nächstenliebe verteilt Heidi zuhause ihre überbordende Zuneigung und Geschenke und bringt damit allen Freude und schließlich sogar den Großvater dazu, sein Herz zu öffnen. Die Geschichte vom verlorenen Sohn, die Heidi aus dem aus Frankfurt mitgebrachten Buch vorliest, lässt den Großvater wieder den Weg in die Kirche und zu den Menschen zurückfinden. Dieser letzte Teil ist rührselig, rundet aber dennoch die Geschichte ab, indem der von Heidi geliebte Großvater auch bei den anderen Bewohnern Anerkennung findet, nicht zuletzt dafür, dass er das Kind aufgenommen und fürsorglich aufgezogen hat. 

Natürlich ist Heidi ein Charakter, der aus heutiger Sicht zu gut ist, um wahr zu sein. Die geschilderte Idylle in den Alpen ist eher phantastischer Sehnsuchtsort als echter Lebensraum, die Bekehrung des Großvaters ein moralischer Wunschtraum. Aber auch dafür lesen wir, für die Auszeiten an beschaulischen Orten, wo die Welt und die Menschen im Einklang miteinander sind und alles am Ende gut wird.

Saturday, April 10, 2021

Penelope Bagieu / Roald Dahl - Hexen hexen

Roald Dahls Hexen hexen (1983) ist ein Klassiker der britischen Kinderliteratur. Erzählt wird die Story aus der Perspektive eines kleinen Jungen, der kürzlich seine Eltern verloren hat und nun mit seiner Großmutter lebt. Diese erzählt ihm Geschichten - und auch davon, dass Hexen immer Handschuhe und Perücken tragen, damit sie wie normale Frauen aussehen. Und Hexen hassen Kinder und wollen sie vernichten! Zum Beispiel verwandeln sie die Kinder in Tiere oder in Steine. Leider schützt dieses Wissen allein nicht vor ihren Hexenkünsten - aber man kann es nutzen, um sie zu bekämpfen! 

Die Französin Pénélope Bagieu hält sich in ihrer Comic-Adaption weitgehend an die literarische Vorlage und illustriert die Geschichte mit leichter Hand. Die Charaktere werden geschickt eingeführt - man sieht sich nicht sofort komplett, sondern nähert sich ihnen Stück für Stück - und auch die Backgroundgeschichte der verstorbenen Eltern wird so erzählt. Die Großmutter ist zeichnerisch ein Knaller mit ihren verrückten Haaren und Outfits, sehr schräg, aber liebevoll mit ihrem Enkel. Die Szenen mit den Hexen sind angemessen gruselig und die Zeichnungen der zwei in Mäuse verwandelten Kinder sind hinreißend niedlich. Angenehm fand ich auch das Verhältnis von Text zu Bild, es wird nicht zuviel vorweggenommen durch Textkästen, aber durch die Dialoge kann man die Geschichte gut verfolgen und der Sprachwitz der Protagonisten - eine Stärke von Dahls Charakteren - bekommt ausreichend Raum.
Hexen hexen ist eine sehr gelungene Graphic Novel, die viel Spaß macht!

Penelope Bagieu / Roald Dahl, Hexen hexen. Reprodukt, Berlin 2020.

Robert Seethaler - Der letzte Satz

 Robert Seethaler lässt uns in Der letzte Satz teilhaben an Gustav Mahlers letzter Reise. Er sitzt an Deck und erinnert sich an die Höhe- und Tiefpunkte seines Lebens. Dabei spielen seine beruflichen, musikalischen Erfolge zwar eine Rolle, im Fokus stehen aber seine Frau und seine Kinder. 

Aufgrund des geringen Umfangs - eigentlich eher eine Novelle als ein Roman - ist Der letzte Satz natürlich keine umfassende Betrachtung des Komponisten und Dirigenten, eher eine Hommage. Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen, es ist leise, unaufgeregt und sensibel. Matthias Brandt war eine gute Wahl als Sprecher. 

Robert Seethaler, Der letzte Satz. Tacheles 2020.

Friday, April 09, 2021

Irmgard Keun - Das kunstseidene Mädchen

Deutschland Anfang der 30er Jahre: Die 18jährige Doris möchte ein aufregendes Leben haben, sie möchte "ein Glanz" sein! Da passt ihre solide Stelle als Stenotypistin nicht so recht dazu, zumal ihr Chef aufdringlich wird. Der Statistenjob am Theater ist da schon besser, aber auch hier will Doris weiterkommen und denkt sich Geschichten aus, um mehr zu scheinen als sie ist. Als das auffliegt und sie außerdem in einem Augenblick der Schwäche einen Pelzmantel aus der Garderobe mitnimmt, flieht sie kurzerhand nach Berlin. Dort verstrickt sie sich in ein beständiges Auf und Ab verschiedener Männerbekanntschaften und erlebt alles - von Luxus bis zur Obdachlosigkeit. Ihre Beziehungen sind allesamt nicht zukunftsträchtig, sie träumt von Selbstbestimmung und Glück, die ihr ihre Bekanntschaften nicht bieten können. Sie schafft es nicht, sich ein eigenes Einkommen zu schaffen, ihr eigener Anspruch und Wunschträume stehen dem im Weg. 

Doris' inneren Monolog lesen wir in Form ihrer Tagebucheinträge. Ihre Schilderungen sind geprägt von ihrer subjektiven Wahrnehmung ihrer Umwelt, manchmal naiv-staunend, begeistert und dann auch wieder desillusioniert-kritisch. Das Berlin der 30er Jahre wird von seiner glamorösen Seite in den Cafés und Clubs und auf den Flaniermeilen geschildert, im weiteren Verlauf nimmt Doris aber auch den Verfall und das Elend wahr, die sich in den vielen Arbeitslosen und Prostituierten auf den Straßen spiegelt.
Ihre Sprache ist phantasievoll und humorvoll, es macht Spaß, ihr zuzuhören, wenngleich im Verlauf des Romans ein bitterer Beigeschmack hinzukommt, wenn immer deutlicher wird, dass sich ihre Träume nicht erfüllen werden. Politisch ist Irmgard Keuns Roman nicht, zwar tauchen Hinweise auf Antisemitismus auf, Doris nimmt dies wahr, aber denkt nicht weiter darüber nach, zu sehr ist sie mit sich selbst beschäftigt. Diese absolute und zum Teil schonungslose Innensicht und Ich-Bezogenheit der Protagonistin in einer Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche, in denen Frauen zwar schon andere Lebensentwürfe haben, aber beruflich-materielle Unabhängigkeit noch schwer ohne Mann zu erreichen ist, machen Das kunstseidene Mädchen zu einer interessanten Lektüre.

Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen. Brigitte Hörbuch Edition 2007.

Matt Haig - Die Mitternachtsbibliothek

Matt Haigs Die Mitternachtsbibliothek handelt vom Leben.
Dieses Leben, dieses eine Leben, das gelebt werden muss.
Es sollte nicht bereut, nicht gering geschätzt und nicht verachtet werden. Es sollte vielleicht überhaupt und gar nicht bewertet werden - wie kämen wir dazu?

Nora Seeds, 35 Jahre alt, Katzenbesitzerin, Klavierlehrerin und Verkäuferin in einem kleinen Musikgeschäft in Bedford, findet ihr Leben nicht mehr lebenswert und beschließt, sich umzubringen. Wäre ihr dies gelungen, so wäre es ein sehr kurzer Roman geworden, doch Matt Haig lässt sie in der Mitternachtsbibliothek stranden. Dort trifft sie ihre Schulbibliothekarin Mrs Elm wieder, die ihr eröffnet, sie könne ein anderes, sogar viele andere Leben ausprobieren, um herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich in diesem oder jenem Moment anders entschieden hätte. Sie muss dazu nur eines der Bücher in der Bibliothek öffnen, die alle mit dem Titel "Mein Leben" überzeichnet sind.
So springt Nora in die unterschiedlichsten Leben, ist nacheinander Schwimmerin, Popstar, Polarforscherin und Philosophieprofessorin, doch keins dieser Leben scheint ihr das "richtige" zu sein. Aber sie kommt nach und nach dem auf die Spur, was das "richtige Leben" sein könnte, was wichtig ist und vor allem wovon es nicht abhängt.  

Welch wunderschöne Idee, diese Mitternachtsbibliothek, in der ungeahnte Möglichkeiten und Universen sich eröffnen! Dazu eine Bibliothekarin, die weise und leise und behutsam der irrenden Protagnistin den Weg weist. Die Botschaft am Ende klar und einfach: Lebe! Nimm an, was dir gegeben ist, in jedem Moment, an jedem Ort. Achtsamkeit und Bescheidenheit. Es sind die kleinen und leisen Dinge und nicht die großen und lauten, die Bedeutung haben.
Das alles gefällt mir sehr gut und ich habe mir diese Geschichte gern erzählen lassen. Nicht alle von Noras Leben haben mich berührt und nicht immer konnte ich ihr Verhalten und Empfinden verstehen, manche ihrer (bereuten) Entscheidungen blieben mir fremd. Aber das Buch webt einen Zauber aus dieser Idee der unendlichen Möglichkeiten, die im Grunde nichts bedeuten, aber zum Ziel führen, dem wahren, dem gelebten Leben. 

Matt Haig, Die Mitternachtsbibliothek. Droemer, München 2021.


Tuesday, April 06, 2021

Art Journal 06.04.2021

 
Just another day in paradise as you stumble to your bed. 
Give anything to silence those voices ringing in your head
You thought you could find happiness just over that green hill
You thought you would be satisfied but you never will
Learn to be still
We are like sheep without a shepherd, we don't know how to be alone
So we wander 'round this desert, wind up following the wrong gods home

[Learn to be still by The Eagles]

Michael Robotham - Um Leben und Tod

Am Tag vor seiner Entlassung flieht Audie Palmer nach einer zehnjährigen Haftstraße aus dem Gefängnis. Er wurde verurteilt, weil er angeblich bei einem bewaffneten Raubüberfalls am Tod von vier Menschen beteiligt war - von den sieben Millionen Dollar fehlt immer noch jede Spur. Angeblich... denn bald wird klar, dass Audie nicht getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Statt dessen scheinen wichtige Männer aus Strafverfolgung und Justiz ein sehr großes Interesse daran zu haben, ihn zu fassen und endgültig zum Schweigen zu bringen. Was ist damals wirklich passiert?

Lange bleibt auch dem Leser verborgen, was Audie nach seinem Ausbruch vorhat und warum er nicht seine Entlassung abwarten konnte. Robotham fügt weitere Erzählperspektiven von einem Mithäftling, einer FBI-Agentin und anderen hinzu, die nach und nach verschiedene Puzzlestückchen der Geschichte zusammenfügen. Ergänzt werden die Geschehnisse durch Erinnerungen Audies aus der Zeit vor dem Raubüberfall, aber die ganze Tragik wird erst kurz vor Schluss deutlich, abgerundet mit einem angemessenen Showdown. 

Insgesamt ist Um Leben und Tod ein spannender Thriller mit einem ungewöhnlichen Setting, der gut erzählt wird, wie man es vom Autor Michael Robotham gewöhnt ist. 

Michael Robotham, Um Leben und Tod. Hörverlag 2015.


Saturday, April 03, 2021

T.C. Boyle - In der Zone

Die Kurzgeschichte In der Zone von T.C. Boyle handelt von Mascha, die drei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl in ihr Heimatdorf zurückzukehrt. Ihr Nachbar Leonid begleitet sie, beide glauben fest daran, ihr Zuhause wieder in Besitz nehmen zu können, allen Warnungen zum Trotz. Den Gefahren, die andere ihnen ausmalen, begegnen sie In der Zone nicht, statt dessen richten sie sich in einer verwilderten Version der alten Heimat wieder ein. Nur als eines Tages auch eine junge Familie mit zwei Kindern in das Dorf kommen, kommen Mascha Zweifel, ob diese dort sicher sind. 

Die Ähnlichkeiten dieser wirklich sehr kurzen Story mit Alina Bronskys Roman Baba Dunjas letzte Liebe sind gelinde gesagt irritierend. Es ist so, als hätte T.C. Boyle einen knappen Entwurf geschrieben, den Bronsky ausgearbeitet hat. Natürlich ist Baba Dunja eine weitaus besser konzipierte Protagonistin, ihre Beziehungen sind vielschichtiger, es gibt Handlung. Letztere kommt auf den 23 Seiten von In der Zone nicht zustande, ich würde sogar so weit gehen, dass von einer Kurzgeschichte mit einem Wendepunkt und einem wichtigen Moment im Leben des Protagonisten nicht die Rede sein kann, da wirklich so gut wie nichts geschieht. Dennoch ist das Setting ähnlich genug, um zu vermuten, dass Bronsky die 2012 veröffentliche Geschichte vielleicht gelesen hat, bevor sie ihren Roman verfasste, der 2015 erschien. 

Mag das sein, wie es ist, Boyle fand seine Idee offensichtlich nicht interessant genug, um daraus einen Roman zu machen - wie er diese dann in In der Zone umsetzte, ist nicht überzeugend. Dann kann man lieber Bronsky lesen. 

T.C. Boyle, In der Zone. Hanser, München 2012.


Friday, April 02, 2021

Alex Gino - George

Auf George von Alex Gino wurde ich aufmerksam, als ich im letzten Jahr für die Popsugar Reading Challenge nach "banned books" suchte. Es ist seit seinem Erscheinen 2015 eins der meist zensierten Lektüren an amerikanischen Schulen. Hierzulande ist es bisher weniger bekannt.

George, biologisch ein Junge, identifiziert sich selbst al
s Mädchen und wird von Anfang an mit "sie" beschrieben. Als an der Schule ein Theaterstück zu Charlotte's Web aufgeführt werden soll, bewirbt sich George für die Rolle der weiblichen Spinne Charlotte - und wird als Junge dafür abgelehnt. Statt dessen bekommt Georges Freundin Kelly die Rolle - und diese ist mutig genug, eine der zwei Vorstellungen George zu überlassen. Damit schafft es George, neben Kelly auch ihrer Mutter und ihrem Bruder zu erklären, dass sie ein Mädchen ist. In ihrem Aufbruch weg von der Angepasstheit hin zu sich selbst erlebt sie die zu erwartenden Anfeindungen und Vorurteile, aber sie erfährt auch Unterstützung. Das Buch endet in der hoffnungsvollen Stimmung, dass George nun die nächsten Schritte auf ihrem Weg gehen kann, damit sie offen die sein kann, die sie ist. 

George nimmt sich des immer noch skeptisch beäugten Themas Transgender an und Alex Gino wählt bewusst eine junge Protagonistin und auch die Zielgruppe wird vom Verlag mit "ab zehn Jahren" angegeben. Es gibt keine anstößigen Schilderungen oder sensationsheischende Szenen, es ist die Geschichte eines jungen Menschen, die auf der Suche nach sich selbst ist.
Es bleibt kein Zweifel, dass George sich sicher ist, weiblich zu sein. Es bleibt kein Zweifel, dass es richtig ist, dass sie als Mädchen, als Frau leben will, ja, sogar muss. Es bleibt kein Zweifel, dass es die Umwelt ist (Familie, Freundeskreis, Schule), die sich daran gewöhnen muss und dem Lernprozess nicht ausweichen kann. George muss sich für nichts entschuldigen, sie ist, wer sie ist. Diese Eindeutigkeit macht Mut, wirbt um Verständnis, ja, und fordert das Verständnis schlussendlich ein.
Ein tolles und wichtiges Buch. 

Alex Gino, George. Fischer, Frankfurt am Main 2016.

Thursday, April 01, 2021

Jilliane Hoffman - Samariter

Faith Sounders ist mit dem Auto auf dem Rückweg von einer Familienfeier, hinten im Wagen sitzt ihre vierjährige Tochter Maggie. Bei einem Stopp auf der Landstraße steht plötzlich eine Frau am Fenster und bittet um Hilfe, die Situation ist irreal und potentiell bedrohlich, deswegen zögert Faith, die Türen zu öffnen. Die Frau wird kurz darauf von einem Mann weggeführt. Eigentlich ist Faith klar, dass es sich hier um eine Entführung handelt, aber da sie alkoholisiert gefahren ist, alarmiert sie nicht die Polizei, obwohl sie weiß, dass sie eine wichtige Zeugin ist. Als die Frau tot und misshandelt aufgefunden wird und die Medien berichten, ist es ihre Tochter, die überhaupt die Zeugenaussagen ins Rollen bringt. Faith gerät immer mehr unter Druck, denn sie verheimlicht noch etwas, was ihre Tochter nicht gesehen hat - es gibt noch einen zweiten Täter. So verzögert Faith' Schweigen die Ermittlungen, ihre angespannte familiäre Situation dramatisiert sich und damit auch ihr Alkoholproblem. Aber auch die Täter sinnen auf Rache...

Die zugrunde liegende Idee des Thrillers mit der moralisch unzuverlässigen Zeugin gibt Samariter von Jilliane Hoffman von Anfang an eine sehr persönliche Note. Was bin ich bereit für andere zu riskieren? Was nehme ich in Kauf, um mich selbst zu schützen? Wie würde ich in einer ähnlichen Situation entscheiden?  
Faith' Dilemma, das zunächst noch überschaubar scheint - sie hat eine Entscheidung getroffen, die ihr eigenes Wohl und das ihres Kindes präferiert - wird in der Folge aber immer weiter zugespitzt: Die angeschlagene Ehe, in der sie sich als die Abhängige sieht, trotz oder gerade wegen der Untreue ihres Mannes, das problematische Kind, das so verhaltensauffällig ist, dass selbst Faith hilflos scheint, damit adäquat umzugehen, und schlussendlich ihre nur nach und nach offenbarte Alkoholsucht, die aber dann Ausmaße hat, die sofort offenkundig sein müssten in ihren Gedanken. Vor diesem Berg an Problemen verzerrt sich das eigentliche Problem ihrer Fehlentscheidung, einer anderen Frau bewusst nicht geholfen zu haben, und gerät in den Hintergrund.
Die Ermittler handeln nachvollziehbar und engagiert, wohingegen die Staatsanwältin, die eine Karriere in den Medien anstrebt, und der Verurteilung des Täters schadet, ein Erzählstrang ist, den der Thriller nicht gebraucht hätte - es war auch so schon problematisch genug! So wirkt die Auflösung und die persönliche Entwicklung von Faith am Ende etwas aufgesetzt und nicht ganz plausibel, in einem sonst spannenden und unterhaltsamen Thriller.

Jilliane Hoffman, Samariter. Argon 2015.