Tuesday, January 29, 2019

Audrey Niffenegger - Die Frau der Zeitreisenden

Vielleicht waren meine Erwartungen zu hoch, aber dies war nicht halb so interessant wie gehofft. Eigentlich war es sogar ... gar nicht spannend.
Die Charaktere blieben mir beide fremd - immer ein schlechtes Zeichen - Henry war mir zu perfekt, bedenkt man, dass er planlos in der Zeit herumspringt, aber irgendwie ist er für Clare perfekt, perfekt und immer noch perfekt. Clare selbst nimmt alles hin, wird nur an einer Stelle wirklich leidenschaftlich, nämlich als sie das Kind bekommen muss, Fehlgeburten, psychische und physische Risiken und Henrys Wünsche in den Wind schlägt, sie muss. Warum? Als weibliche Protagonistin nimmt sie ihr Leben, ihre Freiheit nicht ernst, richtet alles auf das nächste Wiedersehen, auf das Zusammensein mit ihm aus. Und das ab dem zarten Alter von sechs Jahren... Mir machte es keine Freude ihr dabei zuzuschauen.
Vielleicht ist auch schlecht gekürzt worden für das Hörbuch, einige Kritikpunkte anderer Rezensenten konnte ich gar nicht wiederfinden, da sie offensichtlich entfallen sind. Ich bedaure dies nicht, denn so kann ich diesen Roman, der lange auf der Leseliste stand, einfach ad acta legen, ohne zuviel Zeit darauf verwendet zu haben.

Audrey Niffenegger, Die Frau der Zeitreisenden. Argon 2011.

Saturday, January 26, 2019

Tatiana de Rosnay - Sarahs Schlüssel


Sarahs Schlüssel von Tatiana de Rosnay erzählt zwei Geschichten.
Die eine ist die von Sarah, einem 10jährigen Mädchen, das mit über 4000 weiteren jüdischen Kindern am 16. Juli 1942 bei der Rafle du Vélodrome d’Hiver verschleppt wird. Diese Razzia ist bedeutsam, weil französische Polizisten den Befehl der Nationalsozialisten zur Verhaftung der Juden ausführten. Als sie in den Wohnung die jüdischen Männer nicht vorfanden, da diese sich versteckt hielten, wurden stattdessen Frauen und Kinder mitgenommen und später deportiert und ermordet. Aus dem Blick des Mädchens wird das Unverständnis und die Verzweiflung über die Ereignisse deutlich, auch das Entsetzen, dass Franzosen und nicht nur die Deutschen daran beteiligt sind.
Parallel dazu recherchiert die in Paris lebende Amerikanerin Julia im Jahr 2002 für ein Magazin über das Vél’ d’Hiv’ und stellt fest, dass es einen hohen Grad an Verdrängung bezüglich dieser historischen Schuld gibt. Sie wird persönlich involviert, als sie feststellt, dass in der Familienwohnung ihres französischen Ehemanns, in die sie bald einziehen sollen, vor dem Juli 1942 eine jüdische Familie lebte. Sie forscht weiter und trifft auf Sarahs Geschichte...

Sarahs Schlüssel verknüpft erfolgreich die Vergangenheit mit der Gegenwart und macht eindrücklich klar, dass es notwendig und wichtig ist, nicht zu verdrängen und zu vergessen, sondern sich zu erinnern.
Sarahs Erlebnisse sind schockierend, vor allem durch die kindlich-naive Perspektive, die immer mehr kippt, als das Kind merkt, dass die Menschen um sie herum Monster sind. Dennoch erfährt sie auch Freundlichkeit, Mitleid und Hilfe zum Überleben. Wie viele der unzähligen Bücher zum Thema Holocaust rührte mich diese Geschichte zu Tränen. Im Gegensatz dazu kann Julias persönliche Geschichte nicht die emotionale Dichte erzeugen, trotz des Familiendramas, die diese einschließt. Muss sie aber auch nicht, dieser schwächere Aspekt des Romans ist verzeihlich vor dem Hintergrund seiner Botschaft.
Zakhor. Al Tichkah. Erinnere dich. Vergiss niemals.
Beim Lesen einiger anderer Rezensionen stieß ich auf eine von Sol Tetelbaum, der in seiner Rezension darauf eingeht, warum das Buch keine niedrigen Wertungen erhalten sollte, auch wenn einige der Kritikpunkte an Schreibstil und Plot vielleicht berechtigt sind. Ich stimme ihm dabei zu, dass es als Buch über den Holocaust und mit der Mahnung zur Erinnerung funktioniert und wichtig ist. Es mahnt und erinnert uns und das ist gut.
For human beings, the Holocaust is impossible to understand, it is just unexplainable. And the only way to prevent it from happening again is to never forget it.

Tatiana de Rosnay, Sarahs Schlüssel. Bloomsbury, Berlin 2007.

Friday, January 25, 2019

Marie Tourell Søderberg - Hygge

Das P.S. dieses Buches von Marie Tourell Søderberg lautet wie folgt:
Hygge-Momente sind die kleinen alltäglichen Augenblicke, die Sie glücklich machen. Die besten von ihnen leuchten wie Sterne.
Wenn man ein Wort dafür besitzt, wird man sich bewusst, dass sie immer da sind, man muss sie nur einsammeln.
Inzwischen hat fast jeder von Hygge gehört, es ist ein Wort, das durch Lifestyle-Magazine geistert und - häufig handgelettert - einem von Plakaten und Postkarten entgegenkommt. Ich kenne Hygge fast mein Leben lang - auch als Teil der Phrase "tak for en hyggelig aften", mit der sich unsere dänischen Freunde stets nach einem der gemeinsamen Familienabende von uns verabschiedeten. Und ich verbinde damit sofort ein Gefühl, das Ferienhaus im Sommer, Herbst oder Frühjahr, Wochen von Freiheit am Meer, gemeinsam verbrachte Zeit und alles, was ich als typisch dänisch kennengelernt habe. Genau das Gefühl, was in dem Buch Hygge beschrieben wird, ist Teil meiner eigenen Hygge-Empfindung...
Die Autorin Marie Tourell Søderberg beschreibt Situationen, Aktivitäten und Ambiente, die Dänen selbst als Beispiele für Hygge anführen und sie lässt diese in Form von Zitaten zu Wort kommen. Im Anschluss daran gibt es kleine Einrichtungs-/Basteltipps, die dazu dienen sollen, ein Zuhause Hygge-freundlicher zu machen. Illustriert wird dies mit zahlreichen Fotos (in der e-book-Ausgabe nicht sonderlich attraktiv).
Neue Erkenntnisse lieferte das Buch kaum, es war eher eine Bestätigung, dass ich meine Hygge-Momente kenne, d.h. weiß, was mich zufrieden bis glücklich macht. Das löst noch nicht das Problem, wie es zu erreichen ist, sich die Zeiten für Hygge auch wirklich zu nehmen im Spagat zwischen Arbeitsbelastung und verquerer Belastung durch Gadgets und Social Media. Nur in einem kleinen Kapitel am Schluss spricht die Autorin an, dass auch die Dänen ihre Hygge durch diese Dinge bedroht sehen, andererseits dieses Gefühl auch besonders gut durch die bisherige Homogenität der dänischen Bevölkerung getragen werden konnte, dabei aber nicht so weltoffen ist, wie in der heutigen, zunehmend multikulturellen Gesellschaft nötig ist. Trotzdem ist was dran an dieser Philosophie der kleinen Glücksmomente und des Lebens im Augenblick - dänische Achtsamkeit sozusagen...

Marie Tourell Søderberg, Hygge. mvg Verlag, München 2017.

Terry Pratchett - Der fünfte Elefant

Der fünfte Elefant ist auch der fünfte Band in Terry Pratchetts Reihe um Ankh-Morporks Stadtwache. Im fernen Überwald, Heimat der Zwerge, Werwölfe und Vampire, steht die Krönung des nächsten Zwergenkönigs an. In diplomatisch-repräsentativer Funktion reist Sam Mumm mit seiner Frau Sybil dorthin - nur um in politisch-verbrecherische Verwirrspiele hineingezogen zu werden. Die Steinsemmel - Symbol für die immerwährende Macht des Zwergenkönigs - ist gestohlen worden, die Krönung ist in Gefahr. Doch wer zieht die Fäden bei diesem Spiel mit dem Frieden in Überwald?
Derweil droht daheim in Ankh-Morpork ebenfalls Chaos bei der Stadtwache, denn die ist nicht nur ihren Chef los, auch Werwölfin Angua und Karotte machen sich auf nach Überwald. Angua befürchtet, dass ihre Familie hinter den Intrigen steckt, Karotte hingegen verfolgt mit dem ihm eigenen Optimismus Angua, um ihr zu helfen...
Die glorreichen Stadtwachen-Charaktere - überzeugend dargestellt in unterschiedlichsten Stimmfarben und Dialekten durch Michael-Che Koch - plus die schrägen Zwerge, Vampire und Werwölfe (nicht zu vergessen: Igore!) in einer Geschichte voll politischer Verstrickungen mit einer guten Portion Action (Verfolgungsjagden, Kämpfe und Attentate). Dies ist ein Pratchett, wie er sein soll und der Freude macht.

Terry Pratchett, Der fünfte Elefant. Random House Audio 2011.


Thursday, January 17, 2019

Thomas Krüger - Erwin, Enten und Entsetzen

In seinem dritten Fall stürzt sich Erwin Düsedieker mit seinen Enten und seinen Freunden Arno und Hilde in ein großes Abenteuer: Nachdem er tagelang nichts von seiner Freundin Lina gehört hat, reist Erwin ihr voller Sorge auf die Insel Oddinsee nach, denn in der Zeitung wird von ungeklärten Todesfällen dort berichtet. Als sie nach abenteuerlicher Anreise (mit inzwischen drei Gänsen auf einer Fähre voller Feriengäste, man stelle sich das vor!) auf dem Hof von Linas Schwester ankommen, finden sie weder Lina noch deren Schwester vor, dafür aber schon fast verzweifelte Tiere, um die sich Arno zum Glück gleich kümmern kann.
Die Polizei vor Ort ist nicht sehr engagiert und Erwin der Verzweiflung nahe, weil er zunächst aus den Hinweisen nicht schlau wird, die er in Linas Zimmer vorfindet. Doch bald entwickeln sich die Dinge dynamisch um die drei Ostwestfalen herum...

Dieser Fall ist durchaus etwas verzwickter und schwerer zu durchschauen als seine Vorgänger, vielleicht sogar ein bisschen übertrieben hier und da, aber der westfälische Humor blitzt immer wieder auf und die Charaktere, die Thomas Krüger immer weiter ausfeilt, wachsen einem ans Herz (falls man sie nach den ersten beiden Bänden nicht sowieso schon lieb hat). Und erwähnte ich schon die großartige Lesung von Dietmar Bär? Unschlagbar, großer Spaß.

Thomas Krüger, Erwin, Enten und Entsetzen. Schall und Wahn 2015.

Thomas Krügers Erwin Düsedieker-Reihe:
#1 Erwin, Mord und Ente (2013)
#2 Entenblues (2014)
#3 Erwin, Enten und Entsetzen (2015)
#4 Erwin, Enten, Präsidenten (2017)

Tuesday, January 15, 2019

Theodor Fontane - Effi Briest

Diese Hörspielfassung des Klassikers Effi Briest von Theodor Fontane stammt bereits von 1974 (ursprüngliche natürlich eine Radioproduktion) und wurde vom Hörverlag 2008 veröffentlicht. Zur damaligen Zeit namhafte Sprecher und Regisseur Rudolf Noelte machen dies zu einer sehr angemessenen Fassung des Stoffes von 1894.

So erzählt das Hörspiel die Geschichte der zu jung verheirateten Effi Briest in unter fünf Hörstunden, während die vergleichbare Lesung über elf Stunden in Anspruch nimmt - der nicht absolut Fontane- und Klassiker-verliebte Hörer ist dankbar für die ein oder andere weggelassene langatmige Beschreibung.
Effis Schicksal hingegen wird deutlich. Das lebensfrohe Mädchen heiratet den spießigen und viel älteren Baron von Instetten. Eine gute Partie, sicher, aber sie verkümmert an seiner Seite und wird zunehmend schwermütig. Im Hörspiel werden die zunächst vorherrschenden muntereren Dialoge von zunehmend mehr und mehr (inneren) Monologen abgelöst und die Stimmung des Hörspiels wird düsterer parallel zu den Geschehnissen. Trotz der aus heutiger Sicht langatmigen Erzählweise schafft es das Hörspiel Effi Briest, aber auch die übrigen Charaktere, sehr anschaulich umzusetzen und zu verdeutlichen, in welchen gesellschaftlichen Zwängen sich jeder einzelne befindet, die sein oder ihr Handeln bestimmt. Am Ende verliert sich die Mutter - im Grunde eine der starken und gefestigten Figuren - in der Überlegung, ob sie am Ende nicht eine Teilschuld am Schicksal ihrer Tochter trägt durch die frühe Vermählung mit diesem Mann - was ihr Mann jedoch abtut, dass sei nun doch "ein zu weites Feld".

Theodor Fontane, Effi Briest. Hörverlag 2008. 

Jeffery Deaver - Der Giftzeichner

Die ersten Bände von Jeffery Deavers Serie um Lincolm Rhyme und Amelia Sachs waren unbestritten spannend und brachten mit dem höchst intelligenten Quadroplegiker und der draufgängerischen und toughen Polizistin ein Team an den Start, das ungewöhnlich war und auch ungewöhnlich arbeitete. Man erhielt detaillierte Einblicke in die forensische Arbeit, das Setting der ersten Bände in New York trug zur Spannung bei, weil hier Lincoln ein ungewöhnliches Wissen beisteuerte. Seine Gegner - durchweg menschliche Monster - waren ebenfalls intelligent, um es ihm nicht zu leicht zu machen mit der Ermittlung.

Nach einigen Bänden zeichnete sich das Problem ab: Wie sollte der nächste Bösewicht den letzten noch überbieten? Deaver konstruierte immer abstrusere Motive und Winkelzüge, mehrfach wird der ganze Plot herumgerissen und alles ist plötzlich ganz anders als gedacht. Währenddessen sind die Protagonisten in ihren Rollen erstarrt und entwickeln sich nicht weiter. War ihre Beziehung zu Anfang ebenfalls noch ein Element, das zur Spannung beitrug, so ist sie nun in Normalität gemündet. Im wahren Leben wäre das normal und keineswegs schlecht - für eine Thrillerserie ist es weniger gut.

In Der Giftzeichner - dem elften Band der Reihe - werden zudem noch die alten Geister vergangener Bände wieder heraufbeschworen. Ah, Knochenjäger, der Uhrmacher und auch noch die fiesen Milizen, vor denen Amelia vor einiger Zeit ihre Quasi-Kleine-Schwester gerettet hat,... Nach einem scheinbar ganz plausiblen Ende folgen dann noch drei Reprisen, die das ganze noch einmal umdeuten (siehe oben). Nein, insgesamt hat mir Deaver noch weniger gefallen als die letzten - es ist ein wenig, als hätte man sie alle schon gelesen. Vielleicht ist dies der Zeitpunkt, sich von der Reihe zu verabschieden.

Jeffery Deaver, Der Giftzeichner. Random House Audio 2015.

Monday, January 14, 2019

Nancy Mitford - Englische Liebschaften

Englische Liebschaften (erschienen 1945) ist der bekannteste Roman der britischen Autorin und Journalistin Nancy Mitford (1904-1973).

Die Erzählerin Fanny berichtet uns vom Leben ihrer Cousine Linda. Sie selbst wächst phasenweise mit Linda und ihren Geschwistern auf Alconleigh, dem Sitz der Familie Radlett, auf, nachdem ihre Tante Emily sich bereiterklärt hat, sie aufzuziehen. Fannys eigene Mutter lebt ein eher umtriebiges Leben für die Zeit mit wechselnden Partnern, worüber sich die Familie lustig macht.  Auch Linda scheint nicht recht in das konservative Raster der Upper-Class-Familie zu passen. Sie ist eine Person intensiver Gefühle, die impulsiv Entscheidungen trifft, die ihr Leben (und das der Menschen um sie herum) kräftig umkrempeln. Dabei erlebt sie viele Enttäuschungen, aber auch Höhenflüge. Trotz Lindas Art, ihre Familie vor der Kopf zu stoßen, schildert Fanny sie immer liebevoll, fast bewundernd.

Stärke des Romans ist allerdings weniger Lindas Liebesleben und Lebensgeschichte, sondern vielmehr die unterschiedlichen Charaktere, aus denen die Radlett-Familie besteht und die farben- und facettenreich geschildert werden, obwohl sie nicht im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Der vorliegenden Übersetzung von Reinhard Kaiser (erstmals erst 1988) merkt man das Bemühen an, Mitfords Sprache gerecht zu werden, jedoch gelingt es nicht immer den sprachlichen Witz und die durch die Sprache verdeutlichten Unterschiede der britischen Gesellschaft umzusetzen. Vermutlich lohnt es, hier im Original zu lesen. Weniger im Fokus stehen die politischen Hintergründe jener Zeit (kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs), sie werden erwähnt, beeinflussen auch zum Teil die Handlung. Fanny schildert aber recht emotionslos, wer für welche Seite Partei ergreift und lässt dies im Weiteren unkommentiert. Es ist mehr Familien-, Charakter- und Gesellschaftsstudie, kein umfassendes Zeugnis dieser Zeit. Insgesamt ist der Roman sehr britisch, ein Kind seiner Zeit, interessant vor dem Hintergrund eines vergangenen Frauenbilds... bezüglich der Handlung aber hat er auch Längen.

Nancy Mitford, Englische Liebschaften. List, Berlin 2013.

Sunday, January 13, 2019

Arnaldur Indridason - Schattenwege

Schattenwege von Arnaldur Indridason ist der erste Band einer neuen Reihe alter isländischer Kriminalfälle zur Zeit der amerikanischen Besatzung des kleinen Landes während des zweiten Weltkriegs.

1944 wird in Reykjaviks "Schattenviertel" eine junge Frau ermordet aufgefunden. Die isländische Kriminalpolizei und ein Mitglied der amerikanischen Militärpolizei ermitteln gemeinsam und stoßen auf den Fall einer weiteren vermissten Frau. Das seltsamste ist aber (aber typisch isländisch), dass Feen und andere mystische Wesen für die Taten verantwortlich sein sollen.
Parallel dazu im heutigen Reykjavik: Ein 90jähriger Mann wird tot in seinem Bett aufgefunden, er ist erstickt worden. Konrád, Exkriminalbeamter, interessiert sich für den Fall, weil bei dem alten Mann Zeitungsartikel über den alten Fall entdeckt werden. Er selbst ist im "Schattenviertel" aufgewachsen.

Die abrupten Wechsel der beiden Zeitebenen waren im Hörbuch zunächst nicht immer leicht erkennbar, andere Rezensenten bemängeln dies auch in der Printedition. Aber darin liegt auch ein Spannungsmoment der Geschichte, da sich die Geschichten ergänzen und gegenseitig komplementieren. Während die beiden Ermittler sich 1944 alle Mühe geben, den Schuldigen zu finden, wird in der Gegenwart klar, dass sie absichtlich hinters Licht geführt wurden und dass die Geschehnisse damals noch Auswirkungen auf das Leben einiger Menschen heute haben.
Vielleicht liegt es daran, dass es so viele Ermittelnde in diesem Roman gibt, jedenfalls sind mir die Protagonisten recht fremd geblieben und keiner wirkt annähernd so charismatisch (oder schräg), wie Erlendur in Indridasons ursprünglicher Serie. Interessant war die Story durchaus, so dass man Stephan und Flovent noch eine Chance geben sollte.

Arnaldur Indridason, Schattenwege. Lübbe Audio 2015.

Wednesday, January 09, 2019

Colin Cotterill - Dr. Siri und der explodierende Drache

Dr. Siris achter Fall im Laos der 70er Jahre... Er wird zwangsrekrutiert, um an einer gemeinsamen Suchaktion von US-Amerikanern und Laoten teilzunehmen. Ein amerikanischer Hubschrauber-Pilot wird vermisst - allerdings liegt dessen Absturz schon zehn Jahre zurück! Siri schafft es, seine Freunde mit in die Suchkommision einzuschleusen und hofft auf eine Art Urlaub, zumal die Amis immerhin Essen und alkoholische Getränke stellen. Doch natürlich geschehen einige unvorhergesehene Dinge, die nur mit viel Geschick und Humor aufzuklären und zu bewältigen sind.

Auch dieser Cotterill besticht durch seine besondere Atmosphäre und die skurrilen Charaktere, die dem Verfolger dieser Serie ans Herz gewachsen sind. Die Lösung des Falls war abenteuerlich und manche der Wendungen waren selbst für diese schräg-humorvolle Reihe etwas ...wild. Dennoch hoher Spaßfaktor, auch durch den interessanten historischen Hintergrund.

Schmerzlich vermisst habe ich bei diesem Audiobook die Interpretation durch Jan-Josef Liefers, der die vorangegangenen Bände zu einem besonderen Hörgenuss machte, welche die Lesung durch Fabian Hinrichs nicht ganz erreichte.

Colin Cotterill, Dr. Siri und der explodierende Drache. Hörverlag 2015.

Friday, January 04, 2019

Gail Honeyman - Ich, Eleanor Oliphant

Der Originaltitel von Gail Honeymans Debutroman ist sehr viel bedeutsamer als die deutsche Übersetzung: Eleanor Oliphant Is Completely Fine. Nein, bereits auf den ersten Seiten (bzw. nach den ersten Minuten des Audiobooks) ist klar, dass es Eleanor nicht gut geht. Sie ist anders als andere Menschen, lebt seltsam emotionslos an den anderen vorbei und ist dabei auf eine Weise isoliert und einsam, dass es einem das Herz bricht.
Nach und nach wird klar, dass ein traumatisches Ereignis in ihrer Kindheit dafür verantwortlich sein muss, doch was genau geschehen ist, erfährt der Leser erst am Ende, nachdem er Eleanors Weg mit ihr gegangen hat.
Der einzige Ort, an dem Eleanor auf Menschen trifft, ist ihr Arbeitsplatz, ihre Kolleginnen finden sie aber seltsam und lästern nahezu offenherzig auch in ihrer Gegenwart über sie. Ein kaputter Computer bringt sie in Kontakt mit Raymond, ein eher nerdiger, aber gutherziger Typ, der über ihre seltsamen Seiten hinwegsehen kann und mit ihr spricht. Aus dieser Begegnung entspinnt sich das langsame Aufbrechen von Eleanors Panzer.
Eleanor berichtet von ihrem Leben und ihren Erfahrungen mit ihrer ganz eigenen Stimme und man ahnt, dass ihre Wahrnehmung sich nicht immer mit der anderer Menschen deckt. Sie ist kein verlässlicher Erzähler ihrer eigenen Geschichte, im Gegenteil. Es könnte eine sehr traurige Story sein, aber in ihrer ungewöhnlichen Wahrnehmung liegt auch eine Beobachtungsschärfe und ein Zynismus, die enttarnend ist für die seltsamen sozialen Zusammenhänge und Situationen, in denen wir uns Tag für Tag bewegen. Warum antwortet man immer "Danke, gut." auf die Frage, wie es einem geht? Warum ist es die einzig richtige Antwort? (In Deutschland allerdings etwas weniger definitiv als in Großbritannien...siehe Titel...) So sind auch andere Gewohnheiten und gesellschaftliche Gepflogenheiten bei näherer Betrachtung und unter Eleanors Lupe gar nicht mehr so logisch, wie man gemeinhin denkt.
Ich, Eleanor Oliphant ist eine ergreifende Geschichte, legt den Finger in die Wunde der großen Einsamkeit, in der viele Menschen in unserer Gesellschaft unerkannt leben, und macht zugleich Hoffnung, dass es manchmal vielleicht nur kleiner Gesten von Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft bedarf, um etwas zu bewegen. Damit gelingt Gail Honeyman eine Mischung aus unterhaltsamer und emotionsgeladener Geschichte und einer bedenkenswerten Botschaft.

Gail Honeyman, Ich, Eleanor Oliphant. Lübbe Audio 2017.

Interview with Gail Honeyman (Guardian)

Thursday, January 03, 2019

Edmond Baudoin - Der Nabel der Welt

Edmond Baudoin (*1942) ist ein französischer Künstler und Autor verschiedener graphic novels.
In Der Nabel der Welt inszeniert er eine Unterhaltung zwischen einem altem Maler und seinem jungen Nacktmodell. Dabei erzählt der Maler voller Stolz von seinem erfüllten Liebesleben, aber drückt auch sein Unverständnis der Frauen aus. Er sieht die Männer als unfähig an, den Frauen auf gleicher Ebene zu begegnen, da diese aus sich heraus in der Lage sind etwas zu erschaffen (ergo schwanger zu werden), die Männer dagegen sich in einem ständigen Konkurrenzkampf (vom Faustkampf bis hin zum Krieg) befinden, um ihre Unfähigkeit zu erschaffen zu kompensieren. Begleitet werden seine Lebens- und Liebeserinnerungen und seine philosophischen Gedanken von zahlreichen Bildern (Akte und Portraits) des fragenden Modells und der verschiedenen Geliebten seines Lebens.
Diese sind stilistisch sehr abwechslungsreich, wie spontan hingeworfene Aquarelle werden durchmischt mit Tuschezeichnungen, Collagen und anderem, meistens in Rot- und Blautönen. Die Bilder sind zum Teil sehr beeindruckend und drücken mehr emotionale Tiefe aus, als die Geschichten des Malers von seinen Eroberungen erzählen können. Inwiefern man dessen Gedanken folgen möchte, bleibt Mann oder Frau selbst überlassen. Einen bedenkenswerten (feministischen) Gedanken äußert der Maler erst auf vorletzten Seite, bevor er - praktisch wie einen Staffelstab - auf der letzten Seite das Modell sagen lässt, sie möchte nun auch ein paar Dinge sagen (allerdings kommt sie dennoch nicht mehr zu Wort, man weiß nur, es gäbe noch mehr dazu zu sagen - oder hat sie doch die ganze Zeit schon durch den Maler gesprochen?!):
"Die Frauen, die ich kenne, haben keinen Hass auf Männer. Aber viele meiner Geschlechtsgenossen denken, ihnen wird etwas genommen, wenn sie nicht mehr allein regieren, befehlen, besitzen, zerstören, terrorisieren... Sie haben noch nicht gelernt zu teilen, eure Freunde zu sein. Sie mögen sich selbst nicht mehr, sie fühlen sich schwach. Schwache Menschen können gefährlich sein."

Edmond Baudoin,  Der Nabel der Welt. Schreiber und Leser, Hamburg 2013.

Wednesday, January 02, 2019

Ian McEwan - Abbitte

Nach Der Zementgarten und Nussschale ist Abbitte mein dritter Roman von Ian McEwan, der unbestritten einer der großen britischen Autoren der Gegenwart ist.
In vier Teilen erzählt McEwan das Drama um drei sehr unterschiedliche Charaktere. Die Schwestern Briony und Cecilia Tallis und Robbie Turner sind gemeinsam auf dem Landgut der Familie Tallis aufgewachsen, Robbie ist der Sohn einer Bediensteten, der aber von der Familie unterstützt wird. Briony ist zu Beginn der Geschichte im Jahr 1935 13 Jahre alt und mit sich selbst und der Welt nicht im Reinen. Sie will Schriftstellerin werden und versucht, um sich herum Stoff für ihre Geschichten zu entdecken. Von ihrem inneren Hang zum Dramatischen geleitet trifft sie schließlich die Entscheidung, Robbie einer Tat zu bezichtigen, die dieser nicht begangen hat. Das hat nicht nur Folgen für Robbie, sondern auch für Cecilia, die Robbie liebt, und für Briony selbst, denn fortan muss sie mit den moralischen Konsequenzen ihrer Tat leben.
Dieser eine Tag, diese eine Entscheidung Brionys, bestimmt die Leben der Menschen um sie herum. Eindrücklich schildert McEwan den psychologischen Effekt, den dies auf Brionys gesamten Denken hat. Ihre schriftstellerische Arbeit, auf die sie im letzten tagebuchartigen Kapitel eingeht, hat nur das Streben, diese eine Geschichte zu erzählen. Sie berichtet von verschiedenen Fassungen, verschiedenen erträumten Ausgängen der Geschichte, Aspekten, die sie erfand, dazudichtete und wieder strich.
Interessant finde ich, dass sich der Leser am Ende nicht sicher sein kann, ob er nun eine aufrichtige, "wahre" Fassung der Geschichte gelesen hat oder inwiefern der Leser Opfer von Brionys Versuch ist, ihr eigenes Handeln zu rechtfertigen bzw. Abbitte dafür zu leisten. Der erste Teil des Romans war schwer zu ertragen, alle Charaktere riefen Ablehnung oder Unwohlsein hervor, doch im weiteren Verlauf stieg sowohl Spannung als auch die Tiefe der Charaktere - parallel zu ihrer eigenen Weiterentwicklung im Roman. Literarisch betrachtet ist Abbitte ein Geniestreich mit Abstrichen in der Lesefreude durch die Schwere, die das Thema Schuld mit sich bringt.

Ian McEwan, Abbitte. Diogenes, Zürich 2004.