Sunday, November 21, 2021

Julia Franck - Die Mittagsfrau

Endlich einmal ein Roman von der Liste der Preisträger und Nominierten, bei dem ich mich überhaupt nicht wundere, dass er den Deutschen Buchpreis erhalten hat! 2007 gewann Julia Franck als dritte den Preis mit ihrem Roman Die Mittagsfrau.

Die Mittagsfrau erzählt die Geschichte von Helene Würsich in einem Zeitrahmen von Beginn des 20.
Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs.
Helene wächst mit ihrer Schwester Martha in einer dysfunktionalen Familie in Bautzen auf. Der Vater, der eigentlich eine Druckerei betreibt, wird in den ersten Weltkrieg eingezogen, während die psychisch erkrankte Mutter sich so gut wie gar nicht um ihre Kinder kümmert. Helene und Martha lassen sich als Krankenschwestern ausbilden und fliehen nach dem Tod des Vater zu einer Tante. Bei ihr erleben sie das Berlin der 20er Jahre. Helene verliebt sich, doch als ihr Verlobter stirbt, stürzt sie in eine tiefe Depression. Mit dem zunehmenden Erstarken des Nationalsozialismus beginnt ihre Herkunft - die Mutter ist Jüdin - zu einem Problem zu werden. Der Ingenieur Wilhelm verschafft ihr neue Papiere unter der Bedingung, dass sie ihn heiratet und mit ihm nach Stettin zieht. Als Wilhelm bemerkt, dass sie nicht jungfräulich in die Ehe gegangen ist, nimmt er immer mehr Abstand von ihr und interessiert sich auch nicht für den Sohn Peter. Er lässt die beiden schließlich unter dem Vorwand beruflicher Verpflichtungen allein, wo Helene viel arbeitet und zwar ihren Sohn gut versorgt, aber kaum Zeit mit ihm verbringt.
Erzählerisch eingeklammert wird diese Lebensgeschichte Helenes von einem Prolog und einem Epilog aus Peters Sicht: Zu Beginn erlebt der Leser mit, wie seine Mutter ihn als Siebenjährigen auf dem Bahnhof in Stettin zurücklässt. Eine Begründung ist nicht in Sicht, der Leser ist genauso fassungslos wie Peter selbst. Im Epilog beobachtet Peter auf dem Hof eines Onkels den Versuch seiner Mutter, ihn nach zehn Jahren erstmals zu besuchen, er versteckt sich und lässt die Chance, mit ihr zu sprechen, verstreichen.

Die Autorin bedient sich einer eher sachlichen Erzählweise, die jeweils stark an die Sicht der Personen, Peter und Helene, geknüpft ist. Die zentrale Frage, die der Prolog aufwirft, nämlich wie eine Mutter ihr Kind verlassen kann, wird nicht abschließend beantwortet, sondern es ergeben sich vielmehr zahlreiche Erklärungsmuster und Deutungsansätze aus der Geschichte Helenes. Und es sind viele große Themen, die die Autorin hier anschneidet: Selbstbestimmung der Frau, Muttersein, Funktion von Familie, psychische Krankheiten, Nationalsozialismus, Gewalt in der Ehe,...
Der deutsche Wikipedia-Artikel gibt einen beeindruckenden Überblick darüber und stellt einige der Deutungsansätze vor.
Interessant finde ich, dass der Roman in den Übersetzungen und anderen Ländern anders rezipiert wird, häufig steht dort der Themenbereich des Nationalsozialismus stärker im Vordergrund, den ich beispielsweise als weniger dominant wahrgenommen habe, auch wenn er stellenweisen natürlich plotrelevant ist. Ich bleibe eher mit der Frage zurück, ob problematische Familienverhältnisse zum Beispiel mit psychischen Erkrankungen der Eltern, zwangsläufig dazu führen, dass auch die Kinder als spätere Eltern Schwierigkeiten mit Bindungen zu Partner und Kindern haben. Andererseits hinkt diese Deutung massiv, denn die Bedingungen, unter denen Helene durchs Leben gehen musste, waren denkbar schlecht und benachteiligten ihre Entwicklung auf allen Ebenen. Viele interessante Fragen, die bleiben, nach der Lektüre dieses intelligent konstruierten und gut erzählten Romans. 

Julia Franck, Die Mittagsfrau. Der Hörverlag 2007.

Saturday, November 20, 2021

Khaled Hosseini - Tausend strahlende Sonnen

Khaled Hosseinis Tausend strahlende Sonnen (2003) ist der zweite Roman des Schriftstellers nach Drachenläufer, dem interenationalen Bestseller.
Der Roman erzählt die Lebensgeschichten zweier Frauen in Afghanistan, die zunächst sehr unterschiedlich aufwachsen, um dann in einer sehr schwierigen Situation in Freundschaft zueinander zu finden.
Eine der Frauen ist die unehelich geborene Mariam. Als ihre Mutter sich umbringt, ist sie gerade 15 Jahre alt. Ihr Vater will sich nicht in seine Familie aufnehmen und verheiratet sie mit dem viel älteren Rashid, mit dem sie fortan in Kabul lebt. Als sich Rashids Hoffnungen, die junge Frau möge ihm einen Sohn schenken, zerschlagen, straft er sie mit Verachtungen, Erniedrigungen und Gewalt.
Laila hingegen wächst glücklich in einer liberalen Familie auf, der Vater legt viel Wert auf ihre Bildung. Als Laila in einem Bombardement ihre Eltern verliert, nimmt Rashid sie bei sich auf, pflegt sie und heiratet sie schließlich als seine Zweitfrau. Erst betrachten sich die beiden Frauen nur mit Hass, doch die schlechte Behandlung durch ihren Ehemann schweißt sie schließlich zusammen.
Parallel zu dieser sehr persönlichen und teils sehr erschütternden Handlung mit dramatischen Gewaltszenen gegenüber Frauen wird auch die Geschichte Afghanistans (beginnend in den 70er Jahren bis 2003) erzählt. Dabei legt der Autor den Fokus auf den Einfluss, den die jeweiligen Herrschaftssysteme und der Krieg auf die Frauen haben. Beeindruckend ist dabei der Wille beider, immer wieder Hoffnung zu hegen und für die Kinder Zukunftsperspektiven zu schaffen - auch angesichts der schwierigsten Situationen und Bedrohungen. Mit Mariam und Laila hat Hosseini beeindruckende Protagonistinnen und fiktionale Zeuginnen der afghanischen Geschichte geschaffen, der Roman endet mit einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan nach dem Abzug der NATO-Truppen und erneuten Machtübernahme der Taliban wird sich die Hoffnung Lailas auf ein friedliches Afghanistan mit Bildung und Chancen für alle - und besonders für Mädchen und Frauen - wohl kaum erfüllen.

Khaled Hosseini, Tausend strahlende Sonnen. Steinbach sprechende Bücher 2008.

Saturday, November 13, 2021

Marion Poschmann - Die Kieferninseln

Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln stand 2017 auf der Shortlist des deutschen Buchpreises

Die Geschichte startet plötzlich und absurd: Gilbert Silvester träumt, seine Frage betrüge ihn - und ohne weitere Verzögerungen verlässt er sie und fliegt nach Japan. Er ist Dozent an der Universität und forscht zum Thema Bärte - warum er Japan als Ziel auswählt, ist ihm selbst nicht klar. Dort angekommen, weiß er eigentlich nicht, was er tun soll, aber er findet die Reisebeschreibungen des japanischen Dichters Basho, auf dessen Spuren er sich begibt. Ziel der Reise sind die Kieferninseln bei Matsushima. Poschmann stellt ihm einen zweiten Charakter an die Seite - per Zufall trifft er an einer Bahnstation auf den Studenten Yosa, der sich gerade vor den Zug werfen will. Er überzeugt ihn, dass er einen angemesseneren Ort finden kann, um sich umzubringen und so unternehmen die beiden einen Teil der Reise gemeinsam, bis Gilbert Yosa an einem anderen Bahnhof wieder verliert.

Der Roman ist durchwebt mit Gedichten und Briefen, die dazu beitragen, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, Erlebtem und Erdachtem immer mehr verschwimmt. Sprachlich sehr ansprechend erdichtet die Autorin auf engem Raum eine Geschichte mit vielen Querverweisen und Deutungsebenen. Da spielt es keine Rolle, ob erzählerisch-inhaltlich Fragen offen bleiben, beispielsweise über den Verbleib von Yosa oder wohin sich Gilbert nun am Ende seiner Reise wenden wird. Konsequent ist es am Ende der Leser, der sich daraus seine Geschichte zusammensetzt. 

Marion Poschmann, Die Kieferninseln. Suhrkamp, Berlin 2017.

Sunday, November 07, 2021

Arno Geiger - Es geht uns gut

Drei Generationen lässt Arno Geiger in seinem Roman Es geht uns gut von ihrem Leben berichten: Die Großeltern Alma und Richard Sterk, die Eltern Ingrid und Peter Erlach und die Kinder Sissi und Philipp. Die Großeltern besitzen eine Villa in Wien, aus der Ingrid im Konflikt entflieht und die Philipp erbt und entrümpelt. Die Handlung umfasst beinahe das ganze 20. Jahrhundert, von 1938 bis 2001 und spiegelt verschiedene Facetten der österreichischen Gesellschaft.
Kapitelweise springt die Erzählperspektive sowohl zeitlich als auch personell; Mal beobachten wir Richard, wie er seine Frau mit dem Kindermädchen betrügt, oder wir versuchen mit Alma zusammen, angesichts der zunehmenden Demenz Richards die Fassung zu wahren. Dann wieder verzweifelt Ingrid an der konservativen Sturheit ihrer Eltern, nur um sich nach dem Bruch später zu fragen, ob sie den unzuverlässigen und nicht sehr geschäftstüchtigen Peter wirklich hätte heiraten sollen. Der muss nach ihrem Tod Verantwortung für die Kinder übernehmen, aus deren Verhalten ihrerseits wiederum oft Verachtung ihm gegenüber zu Tage tritt. Aber es ist nicht nur das, Peter ist zugleich auch planlos und gedankenlos, er weiß später mit seinem Erbe nichts anzufangen und scheint keinerlei Verbindungen zu seiner Familie oder sogar zum echten Leben zu haben. Er hat keine Freunde, keine Beziehungen, steigert sich nahezu in eine vollkommene Passivität hinein, die ihm seine Schwester schon als Kind nachgesagt hat, und hat dabei eine seltsam anmutende Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Es ist nicht ganz leicht, bei all diesen Sprüngen die Querverweise und miteinander in Korrespondenz stehenden Beziehungen im Blick zu behalten. Vieles resoniert über die Generationen hinweg, die Unzufriedenheit mit der Elterngeneration und die nicht harmonischen, sondern belasteten Beziehungen der Paare. Es ist sicherlich ein kunstvoll konstruierter Roman, weswegen es vielleicht nachvollziehbar ist, dass Arno Geiger mit Es geht uns gut im Jahr 2005 als erster mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde (wenn man mal von der Tatsache absieht, dass es sich um ein Buch von einem Österreicher, das in Österreich spielt, handelt...). Richtig begeistert hat mich der Roman dennoch nicht, vielleicht liegt es daran, dass die Charaktere allesamt eher in ihrem Leben steckenbleiben, quasi langsam darin versanden, und es trotz der vielen Gedanken um das Leben, um sich selbst und die Familie, kaum Erkenntnis und Fortschreiten gibt. Vielleicht ist das Leben aber auch so...

Arno Geiger, Es geht uns gut. HörbuchVerlagHamburg 2013.

Tuesday, November 02, 2021

Louise Erdrich - Der Klang der Trommel

Wieder einmal ein Buch, das ich ohne die Popsugar Challenge vermutlich nicht so schnell gelesen hätte. Zu Unrecht ohnehin, denn von der Autorin kannte ich schon ihren Roman Der Club der singenden Metzger, von dem ich 2009 recht angetan war.

Louise Erdrichs Der Klang der Trommel erzählt aus der Perspektive verschiedener Menschen von ihren Erlebnissen mit einer Trommel des Stammes der Ojibwe Native Americans.
Da ist Faye Travers, selbst mit Ojibwe-Wurzeln, die mit ihrer Mutter zusammen eine Firma für Haushaltsauflösungen betreibt. Sie entdeckt die Trommel auf dem Dachboden eines Verstorbenen und nimmt sie an sich. Ihre durch die Trommel wiedergefundene Spiritualität hilft ihr, sich über entscheidende Dinge in ihrem Leben klarzuwerden und sie zu trösten.
Sie entscheidet sich außerdem, die Trommel ihren rechtmäßigen Besitzern aus dem Ojibwe-Stamm zurückzugeben und macht Bernard ausfindig, einen direkten Nachfahren des Trommelbauers. Er erzählt die schmerzvolle und dramatische Geschichte ihrer Entstehung.
In einem dritten Teil rettet die Macht der Trommel einem kleinen Mädchen und ihren Geschwistern das Leben.
Die Geschichten sind eng miteinander verwoben. Ein wichtiger Aspekt sind dabei der Mut und die Resilienz der Kinder, die durch die Kraft der Liebe und durch die Trommel verbunden sind. Erzählerisch ist Der Klang der Trommel beeindruckend und die Themen sind essentiell: Liebe, Verlust, Schuld, Glaube. Bedenkenswert finde ich außerdem Erdrichs Schilderungen der Natur, in der sich ihre Charaktere bewegen, und der Tiere, denen eine starke symbolische Bedeutung beigemessen wird.
Vielleicht sollte ich nicht wieder ein Dutzend Jahre verstreichen lassen, bis ich wieder ein Buch der Autorin zur Hand nehme.

Louise Erdrich, Der Klang der Trommel. Aufbau, Berlin 2015.

“Das Leben wird dich zerbrechen. Niemand kann dich davor schützen, auch nicht das Alleinsein, denn auch die Einsamkeit wird dich mit ihrer Sehnsucht zerbrechen. Du mußt lieben. Du mußt fühlen. Dafür bist du auf der Welt. Du bist hier, um dein Herz aufs Spiel zu setzen. Du bist hier, um dich verschlingen zu lassen. Und wenn du dann zerbrochen wirst oder verraten oder verlassen oder verletzt, oder wenn der Tod dich streift, setz dich unter einen Apfelbaum, hör zu, wie um dich herum die Äpfel zu Boden fallen und ihre Süße verschwenden, und sage dir, daß du so viele von ihnen gekostet hast, wie du konntest.”