Die Mittagsfrau erzählt die Geschichte von Helene Würsich in einem Zeitrahmen von Beginn des 20.
Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs.
Helene wächst mit ihrer Schwester Martha in einer dysfunktionalen Familie in Bautzen auf. Der Vater, der eigentlich eine Druckerei betreibt, wird in den ersten Weltkrieg eingezogen, während die psychisch erkrankte Mutter sich so gut wie gar nicht um ihre Kinder kümmert. Helene und Martha lassen sich als Krankenschwestern ausbilden und fliehen nach dem Tod des Vater zu einer Tante. Bei ihr erleben sie das Berlin der 20er Jahre. Helene verliebt sich, doch als ihr Verlobter stirbt, stürzt sie in eine tiefe Depression. Mit dem zunehmenden Erstarken des Nationalsozialismus beginnt ihre Herkunft - die Mutter ist Jüdin - zu einem Problem zu werden. Der Ingenieur Wilhelm verschafft ihr neue Papiere unter der Bedingung, dass sie ihn heiratet und mit ihm nach Stettin zieht. Als Wilhelm bemerkt, dass sie nicht jungfräulich in die Ehe gegangen ist, nimmt er immer mehr Abstand von ihr und interessiert sich auch nicht für den Sohn Peter. Er lässt die beiden schließlich unter dem Vorwand beruflicher Verpflichtungen allein, wo Helene viel arbeitet und zwar ihren Sohn gut versorgt, aber kaum Zeit mit ihm verbringt.
Erzählerisch eingeklammert wird diese Lebensgeschichte Helenes von einem Prolog und einem Epilog aus Peters Sicht: Zu Beginn erlebt der Leser mit, wie seine Mutter ihn als Siebenjährigen auf dem Bahnhof in Stettin zurücklässt. Eine Begründung ist nicht in Sicht, der Leser ist genauso fassungslos wie Peter selbst. Im Epilog beobachtet Peter auf dem Hof eines Onkels den Versuch seiner Mutter, ihn nach zehn Jahren erstmals zu besuchen, er versteckt sich und lässt die Chance, mit ihr zu sprechen, verstreichen.
Die Autorin bedient sich einer eher sachlichen Erzählweise, die jeweils stark an die Sicht der Personen, Peter und Helene, geknüpft ist. Die zentrale Frage, die der Prolog aufwirft, nämlich wie eine Mutter ihr Kind verlassen kann, wird nicht abschließend beantwortet, sondern es ergeben sich vielmehr zahlreiche Erklärungsmuster und Deutungsansätze aus der Geschichte Helenes. Und es sind viele große Themen, die die Autorin hier anschneidet: Selbstbestimmung der Frau, Muttersein, Funktion von Familie, psychische Krankheiten, Nationalsozialismus, Gewalt in der Ehe,...
Der deutsche Wikipedia-Artikel gibt einen beeindruckenden Überblick darüber und stellt einige der Deutungsansätze vor.
Interessant finde ich, dass der Roman in den Übersetzungen und anderen Ländern anders rezipiert wird, häufig steht dort der Themenbereich des Nationalsozialismus stärker im Vordergrund, den ich beispielsweise als weniger dominant wahrgenommen habe, auch wenn er stellenweisen natürlich plotrelevant ist. Ich bleibe eher mit der Frage zurück, ob problematische Familienverhältnisse zum Beispiel mit psychischen Erkrankungen der Eltern, zwangsläufig dazu führen, dass auch die Kinder als spätere Eltern Schwierigkeiten mit Bindungen zu Partner und Kindern haben. Andererseits hinkt diese Deutung massiv, denn die Bedingungen, unter denen Helene durchs Leben gehen musste, waren denkbar schlecht und benachteiligten ihre Entwicklung auf allen Ebenen. Viele interessante Fragen, die bleiben, nach der Lektüre dieses intelligent konstruierten und gut erzählten Romans.
Julia Franck, Die Mittagsfrau. Der Hörverlag 2007.
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