Sunday, June 25, 2017

Jörg Maurer - Föhnlage

Nachdem ich von den Alpenkrimis von Andreas Föhr (zuletzt Wolfsschlucht) überraschend angetan war, wollte ich den nächsten ausprobieren. Meine Wahl fiel auf Föhnlage von Jörg Maurer.  
Kommissar Jennerwein ermittelt in einem seltsamen Fall: Während eines Klavierkonzerts stürzte der Obertürschließer Eugen Liebscher von der Decke des Dachbodens mitten in die Konzertbesucher. Er verletzte dabei Ingo Stoffregen, der ebenfalls verstarb. Kurz nach den Ereignissen herrscht großes Chaos, eine verlässliche Zeugenaussage lässt sich schwerlich finden. 
Parallel zu Jennerweins Ermittlungen erfährt der Leser/Zuhörer von dem lukrativen Nebenerwerb des Bestatterehepaares Grasegger. In den Särgen ihrer Kunden entsorgen sie auch noch andere Leichen, die zum Teil aus Italien (Mafia!) angeliefert werden. Ihre Kundenliste und andere wichtige Daten sind auf einem USB-Stick gespeichert, den sie auf dem besagten Dachboden versteckt haben, wo ihn die Polizei auch entdeckt...
Um es kurz zu machen: Die Lesung - vom Autor selbst - ist amüsant und besticht durch Dialekte und den trockenen Humor, mit dem die skurillen Ereignisse vorgetragen werden. Leider gibt es bei Föhnlage (wie auch bei anderen vom Lokalkolorit geprägten Krimis) zahlreiche Momente, wo der Fall ins Slapstickartige abrutscht. Charaktere und Ereignisse werden überzogen komisch dargestellt und damit vielleicht witzig (wer's mag), aber auch unglaubhaft.
Hinzu kommt eine recht plötzliche Aufklärung am Schluss, die auch nicht dazu beiträgt, dass man dem Plot großen Glauben schenken kann. Es ist ein Krimi, der mit Komik, aber nicht mit Spannung besticht, da weite Teile unplausibel bleiben.

Jörg Maurer, Föhnlage. Argon 2011.

Kathy Reichs - Tempe Brennans erster Fall

Just a little novella that tells us about how Tempe was brought into her job as a forensic anthropologist by detective Slidell. The story is not really impressive or thrilling, its main purpose being to show us that she was good at her job right from the beginning. And annoyingly enough - even in this first case she is not able to listen to the professionals and stay put, she has to run to the place where the showdown is and see for herself. *sigh*

Kathy Reichs, Tempe Brennans erster Fall. Blessing, München 2017.

Saturday, June 24, 2017

Margaret Atwood - Der Report der Magd

Die kanadische Autorin Margaret Atwood (*1939) veröffentlichte The Handmaid's Tale bereits 1985. Die erste deutsche Übersetzung des Titels lautete Die Geschichte der Dienerin, neuere Ausgabe sind Der Report der Magd überschrieben, letzteres vermutlich die passendere Übersetzung.
Die Ich-Erzählerin beschreibt in Erinnerungen ihre Erlebnisse als "Magd" in einer höher gestellten Familie zur Zeit eines fiktiven totalitären Regimes auf dem Terrain der USA. Umweltbedingungen haben zu einer hohen Sterilität in der Bevölkerung geführt, auf der Basis einer zweifelhaften Bibelauslegung werden nun fruchtbare Frauen Familien unterstellt, die von den Ehemännern anstelle ihrer Ehefrauen geschwängert werden sollen. Dabei werden skurrile Formalitäten eingehalten, die Mägde und die übrigen Angestellten der Haushalte haben keinerlei Rechte. Jedoch ist die alte Regierung noch nicht so lange gestürzt, die alte Gesellschaftsform noch nicht so lange her, als dass sich die Protagonisten nicht mehr daran erinnert. Sie hatte einen Mann, eine Tochter und einen Beruf. All dies wurde ihr systematisch genommen. Der Prozess der Umstrukturierung der Gesellschaft, die von Denunziation und Angst geprägt ist und die vollkommene Entrechtung der Frauen, wird teils fragmentarisch in Erinnerungen und erst nach und nach erzählt. So ist man als Leser zunächst darauf konzentriert, sich erst einmal in der geschilderten Gegenwart zurechtzufinden, widerstrebend nimmt man die Gegebenheiten hin, versucht dem Gedankenstrom, der Erinnertes und Geschehendes, Erträumtes und Reales vermengt, zu folgen. Es ist ein sehr emotionaler und sehr intensiver Erzählstil, der tief hineingeht in die Ungerechtigkeit und die Ohnmacht der Erzählerin. Und dennoch ist alles seltsam vorstellbar: Es sind Strukturen, die aus der Geschichte oder anderen Ländern nicht unbekannt sind - was den Schrecken noch verstärkt. Diese Dystopie ist denkbar, nicht absurd oder unvorstellbar. 
Die Erzählung endet abrupt - die Protagonistin wird eines Tages aus dem Haushalt abgeholt, nachdem sie immer tiefer auf Abwege geraten ist, verursacht durch den Kommandanten (dem Ehemann), seiner Frau und ihrem eigenen Bedürfnis nach menschlichem Kontakt. Dabei bleibt unklar, ob sie von einer Untergrundbewegung gerettet oder von dem Regime verhaftet wird. Beides ist denkbar.
In einer Art Nachwort wird der Leser mitgenommen in die Zukunft, in der Historiker sich mit dem wissenschaftlichen Gehalt des Reports beschäftigen. Dabei werden Fragen und Vermutungen gestellt, wer die historischen Personen waren, da die Erzählerin ihre eigene Identität nicht aufgedeckt, wie ihr Schicksal war und es werden einige Andeutungen gemacht über den größeren historischen Zusammenhang. Auch wenn dies einiges verdeutlicht, bleibt der Leser mit Fragen zurück - was sicherlich beabsichtigt ist.
Eine beeindruckend und erschreckend nachvollziehbare Dystopie, die daran erinnert, wie wichtig es ist, weiter den Weg zur Gleichberechtigung zu gehen und nicht nachzulassen, sich gegen frauenfeindliche und frauenherabsetzende Strukturen auszusprechen und dagegen anzukämpfen.

Margaret Atwood, Der Report der Magd. Piper, München 2017.

Three cards on one day

It is surprising that although I took a long break with postcrossing and just started writing cards a few days ago three cards arrived yesterday. None of my cards could have arrived yet when they were sent. I especially like the B&W portrait and of course the writing woman - I don't like still lives so much... Here they are:

portrait of Angela Carter (British author, 1940-1992), photographed by Sally Soames
sent by Mickaela from London, UK

Emile Vernon (1872-1920), Elegant Lady sent by Monique from Belgium

Still Life by Stella Blakiston, sent by nonsens from Poland

Wednesday, June 21, 2017

Quint Buchholz - Zauberworte

Zauberworte ist ein von Quint Buchholz zusammengestellter Band von Wort- und Bildpaaren.
Auf der linken Seite steht das Zauberwort, das durch die Bildwahl von Buchholz illustriert, interpretiert und fortgeführt wird.
Dies ist kein Buch zum Lesen, sondern ein Buch zum Träumen und Meditieren.
Wunderschöne Bilder, die durch das dazu ausgewählte Wort zu neuen Fantasiereisen einladen.

Quint Buchholz, Zauberworte. Sanssouci, München 2016.

Monday, June 19, 2017

William Golding - Herr der Fliegen


Dies ist nicht meine erste Begegnung mit Herr der Fliegen von William Golding. Ich erinnerte mich zwar nicht mehr exakt an die Handlungsabläufe oder die einzelnen Charaktere, was mir in Erinnerung geblieben war, ist die bedrückende, intensive Atmosphäre. Was als Abenteuergeschichte - eine Gruppe sechs- bis zwölfjähriger Jungen strandet auf einer einsamen Insel - beginnt, kippt schnell um in Bedrohliche, in eine psychologisch hochbrisante Situation, die zugleich die niederen, brutalen, animalischen Triebe im Menschen in den Fokus nimmt.

Golding gibt seinen Protagonisten starke, klar abgegrenzte Charakterzüge, die stereotyp sind und auch sein sollen, da hinter der Handlung auch immer die symbolische Bedeutung des Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen dem Primitiven und der Zivilisation steht.
Der Leser kann sich der immer bedrohlicher werdenen Atmosphäre nicht entziehen, durch die durchaus noch kindlichen Augen Ralphs müssen wir erkennen, dass die Agression und das Machtbedürfnis seines Gegenspielers Jack und seiner Gruppe immer weiter zunehmen und alles auf eine große Katastrophe hinausläuft.
Die Rettung erscheint in letzter Minute Deus Ex Machina in Form eines Erwachsenen - es ist ein Marineoffizier, bei dessen Anblick die Kinder wieder zurückfallen in die erlernten Muster ihrer Erziehung, die sie bei ihrem Aufenthalt auf der Insel Schritt für Schritt abgelegt haben.
Dennoch ist das Ende, das Schicksal der Kinder ungewiss - nach ihren Erlebnissen und Taten scheint ein normales glückliches Leben in der Zivilisation unwahrscheinlich, zumal der eingangs erwähnte und die Geschichte auslösende Krieg noch nicht zuende ist...
Herr der Fliegen ist ein beeindruckender Roman, der immer noch seine Berechtigung und Gültigkeit hat - auch mehr als 60 Jahre nach seinem Erscheinen.

Die Lesung von Andreas Fröhlich ist packend, einmal mehr beweist er, was für ein hervorragender und flexibler Sprecher und Schauspieler er ist.

William Golding, Herr der Fliegen. Argon Hörbuch 2009.

Sunday, June 18, 2017

Outgoing snailmail

 
After a period of rest I'm back at postcrossing. These ten cards are on their way to: Netherlands, Austria, China, Hong Kong, Taiwan, Finland, Slovakia, U.S.A., Japan and Russia.
Any guesses which will arrive first (or last)? 

#1 Netherlands = 21st June 2017 (3 days)
#2 Slovakia = 22nd June 2017 (4 days) 
#3 Austria = 23rd June 2017 (5 days)
#4 USA = 26th June 2017 (8 days)
#5 Japan = 27th June 2017 (9 days)
#6 Finland = 28th June 2017 (10 days) 
#7 Taiwan = 4th July 2017 (15 days)
#8  Hong Kong = 4th July 2017 (16 days)
...which leaves China and Russia last - what a surprise (*irony off*)! 
#9 China = 7th July 2017 (19 days)
#10 Russia = 14th July 2017 (26 days)

Sunny morning run

photo by InBetween, Promenade/Hermannsweg/Sparrenburg

Thursday, June 15, 2017

Robert Arthur - Die drei Fragezeichen und der Super-Papagei

This is one of my all-time-favourites - in the radio play version of my childhood. This is my first time reading it.
The story unfolds around a stolen parrot and quickly turns into one of the typical riddles that the ??? have to solve.
The radio play is very close to the book - I knew a lot of the scenes and sentences by heart. But some scenes were a bit more detailed and the characters of Carlos and his father were given more room which I liked.

Robert Arthur, Die drei Fragezeichen und der Super-Papagei. Kosmos, Stuttgart 2011 (Original 1964).
 

Tuesday, June 06, 2017

Hjorth und Rosenfeldt - Die Menschen, die es nicht verdienen

Das Verhältnis zwischen Sebastian Bergman und seiner Tochter Vanja ist nachhaltig gestört, auch wenn die Karten diesbezüglich nun endlich auf dem Tisch liegen. Vanja sieht alle ihre familiären Bindungen in einem Scherbenhaufen, so ist es ihr gerade recht, sich wieder in Ermittlungen zu stürzen.
Ein Serientäter der besonderen Art hat es auf in den Medien erfolgreiche Menschen abgesehen, die seiner Meinung nach zu dumm sind, um diese Aufmerksamkeit zu erhalten. Er will damit eine öffentliche Diskussion in Gang bringen und bedient sich dazu brutalster Mittel. Sebastian sieht in ihm einen ebenbürtigen Gegner und fordert ihn heraus - nur um einmal mehr mit seinem Egoismus neue Schuld auf sich zu laden.
Die Idee, dass sich ein intelligenter Mensch dazu entschließen könnte, auf die augenstechende Dummheit hinzuweisen, dafür aber Gewalt zu verwenden, ist interessant, aber vielleicht auch ein wenig abwegig. Die Ermittlungstätigkeit der Gruppe ist solide und nachvollziehbar, nutzt ihre Stärken und die Schwächen des Gegners. Der Showdown am Schluss, ein Bombenszenario in einem Hotel, erscheint logisch, wenngleich Bergman aus der Egoistenrolle fällt und die Welt rettet.
Wieder endet der Roman auf einem dramatischen Cliffhanger, wie schon der letzte Band, weitere Veröffentlichungen des schwedischen Autorenduos sind aber noch nicht angekündigt. Da heißt es warten. 

Hjorth und Rosenfeldt, Die Menschen, die es nicht verdienen. Audiobuch 2015.

Die bisherigen Bände der Reihe um Sebastian Bergman:
#1 Der Mann, der kein Mörder war
#2 Die Frauen, die er kannte
#3 Die Toten, die niemand vermisst
#4 Das Mädchen, das verstummte
#5 Die Menschen, die es nicht verdienen

Jirō Taniguchi - Vertraute Fremde

Nach den Kurzgeschichtenbänden Die Sicht der Dinge und Von der Natur des Menschen ist Vertraute Fremde der erste Roman des Japaners Jirō Taniguchi.

Der Architekt Hiroshi Nakahara kommt aus Versehen nach langen Jahren wieder in seine Geburtsstadt - und fällt durch die Zeit zurück in die 60er Jahre, als er noch ein Teenager war. Mit dem Wissen des 48jährigen durchlebt er erneut diese Zeit, sieht seine Mitschüler, seine Familie und auch sich selbst mit anderen Augen. Besonders erinnert er sich an das Ende jenes Sommers, als nämlich sein Vater spurlos verschwand und die Familie zurückließ. 

Während die Graphic Novel die Zeitparadoxa weitgehend außer Acht lässt (wie auch immer Hiroshi handelt, es treten wichtige Ereignisse dennoch ein), ist die Reflexion des Erwachsenen über die Welt des Jugendlichen, die er noch einmal erleben darf/muss, interessant. Er wertet anders, er hinterfragt und gelangt schließlich auch zu der Erkenntnis, dass er sein eigenes Leben nun auch anders wahrnimmt - und erst in diesem Augenblick kann er zurückkehren.
Die Bilder Taniguchis bestechen einmal mehr durch Klarheit und große Emotionalität und erzählen mindestens die Hälfte der Geschichte - wenn nicht mehr.

Jirō Taniguchi, Vertraute Fremde. Carlsen, Hamburg 2007.

Friday, June 02, 2017

Donna Tartt - Der Distelfink

Von Carel Fabritius, 1654 (picture wiki commons)

Dieses Gemälde des niederländischen Malers Carel Fabritius (1622-1654) ist namensgebend für Donna Tartts 2014 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman. Theodor Decker besucht mit seiner Mutter das Metropolitan Museum of Art in New York, als ein Bombenanschlag alles verwüstet. Zahlreiche Menschen sterben und Theo wacht neben einem alten Mann auf, der ihm sterbend einen Ring und den Namen seines Geschäfts mit auf den Weg gibt, ihn aber auch drängt das Bild mitgehen zu lassen. In einer Plastiktüte trägt Theo das Bild durch die Trümmer nach draußen, niemand hält ihn auf.
Seine Welt bricht im Folgenden auseinander, seine Mutter ist bei dem Anschlag umgekommen. Als Halbwaise ergeben sich für ihn nun mehrere schicksalsschwere Lebensumbrüche.
Zunächst kommt er bei der reichen Familie eines Freundes unter. Während dieser Zeit wird er intensiv psychologisch betreut, scheint aber dennoch verwirrt und überwindet den Verlust kaum. Er sucht den Laden des alten Mannes auf und knüpft Kontakt zu dessen Kompagnon James Hobart. Dieser nimmt ihn väterlich auf und lehrt ihn einiges über Möbelrestauration und Kunst.
Sein alkoholkranker Vater, der die Mutter vor deren Tod verlassen hatte, taucht auf und nimmt Theo mit nach Las Vegas, kümmert sich aber wenig um ihn, vielmehr werden durch ihn und seine Freundin Xandra Alkohol und Tabletten in Theos Leben präsent. Theo lernt Boris kennen, der ebenfalls seine Mutter verloren hat, urspründlich aus der Ukraine stammt und dessen Vater noch schrecklicher ist als sein eigener. Zusammen saufen, rauchen und stehlen die beiden und experimentieren mit verschiedenen Drogen.
Als sein Vater bei einem Autounfall stirbt, flüchtet Theo zurück nach New York und kommt bei Hobie unter. Seine Schullaufbahn ist nachhaltig ruiniert, er ist tablettenabhängig, aber er interessiert sich für Kunst und das Geschäft, das allerdings kurz vor dem finanziellen Aus steht. Er schafft es meisterhaft aus dieser Klemme - aber natürlich nicht auf legalem, ehrlichen Wege.
Das Bild, der Distelfink, begleitet ihn auf all diesen Stationen, während er älter wird, macht er sich mehr und mehr Sorgen, dass man seinen Diebstahl entdecken könnte und um die ordnungsgemäße Lagerung des Bildes. Er lagert es ein und packt es jahrelang nicht aus.
Daher ist ihm über Jahre hinweg nicht klar, dass er statt des Bilder nur noch eine Atrappe besitzt, da Boris ihm in Vegas das Bild entwendet - und inzwischen in einem schiefgegangenen Drogendeal verloren hat. Dies kommt erst heraus, als Theo Boris nach Jahren in New York wiederbegegnet. Theo ist wütend und empfindet große Angst und Verlust. Eine von Boris angestiftete Rettungsaktion führt die beiden nach Amsterdam, wo aber alles schiefläuft und Theo einen ihrer Gegner erschießt. Er hängt mehrere Tage in einem Hotel ohne Pass fest, versinkt im Drogenwahn und will sich schließlich stellen. Boris taucht im letzten Moment auf und erklärt ihm, dass er das Bild durch einen Tipp bei der Polizei bezüglich des Lagerorts zurückgegeben und dafür sogar eine Belohnung in Millionenhöhe kassiert hat.
Der Roman endet mit Theo, der zu Hobie zurückkehrt, ihm alles erzählt und für seine betrügerischen Machenschaften mit dem Geschäft geradesteht. Er ist innerlich gewandelt, jedoch ist seine Zukunft weiterhin unklar.
 
Theo ist ein schwieriger Protagonist - typisch für Donna Tartt. Man schaut ihm auf seinem Lebensweg zu, hat Mitleid mit ihm bei seinen schweren Schicksalsschlägen, ist aber auch abgestoßen von seinen offensichtlich falschen Entscheidungen und seiner fehlenden moralischen Basis. Aber wie moralisch richtig handeln, wenn man ohne Mutter unter lauter kaputten Mitmenschen aufwächst? Denn nahezu jede der Personen um ihn herum ist auf die ein oder andere Weise versehrt, hat Schlimmes erlebt, leidet unter physischen oder psychischen Krankheiten. Da ist niemand, an dem er sich positiv orientieren kann, die Spirale führt nur abwärts. Die Ausnahme ist vielleicht Hobie, aber auch der sieht nicht (oder will nicht sehen), was mit Theo geschieht, greift nicht ein, bleibt meistens passiv. Boris, der nahezu zwangsläufig kriminell werden musste, beschleunigt Theos Absturz durch seinen halsbrecherischen Versuch, seinen Betrug (den Diebstahl des von Theo geliebten Bildes) wiedergutzumachen - nicht unbedingt ein Freund, wie man sich ihn wünscht.
Dennoch steht am Ende des Romans eine Umkehr zum Guten, zum Lebensbejahenden, zum Wunsch, das Richtige zu tun (wenn auch, ohne immer zu wissen, was dies ist). Das Bild ist der Welt zurückgegeben, vielleicht kehrt damit auch Theo zurück in die Welt.

Über 1000 Seiten hat die deutsche E-book-Ausgabe, das Audiobook in der ungekürzten Lesung dauert über 33 Stunden. Es ist ein Roman, der Zeit und auch Nerven kostet mit seinen Längen. Aber Donna Tartts Stil beschert dem Leser dennoch immer wieder Höhepunkt, Szenen und Aussagen, die einen aufhorchen, innehalten lassen. Dazwischen muss man aber auch immer wieder ... durchhalten. Es gibt vielfältige Bedeutungsebenen, auf denen man das Buch betrachten kann. Vielfach wurde es als Gesellschaftsstudie rezensiert, es hat viele kunst- und lebensphilosophische Momente. Es ist ein intensiv konstruierter, durchdachter Roman, der einen phasenweise emotional mitnimmt - allerdings eher auf einer düsteren Reise. Denn trotz der Schönheit des Bildes ist nahezu alles dunkel in dieser Geschichte und auch am Ende hat man nur eine geringe Hoffnung auf Licht und Freude im Leben des Protagonisten -  es ist ein intensives, aber nicht sehr positives Stück Literatur.

Donna Tartt, Der Distelfink. Der Hörverlag 2015.