Tuesday, July 18, 2017

Ian McEwan - Nussschale

Cover: Gemälde von Ruth Shively,
›In the Bedroom‹, 
2012
Ian McEwan wählt für seinen Roman Nussschale eine außergewöhnliche Erzählperspektive - die des ungeborenen Kindes im Mutterleib. Gemeinhin würde man diesem Erzähler nicht viel zutrauen, seine Sichtweise muss zwangsläufig - so denkt man - begrenzt sein. Doch dieser Fötus ist allwissend, er verfügt über politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche und literarische Kenntnisse aller Art, die er auf höchst ansprechende Art, rhetorisch geschickt kundtut. Er beleuchtet die Geschehnisse um ihn herum, kommentiert, moralisiert, zweifelt - um dann zwischendurch an den passenden Stellen wegzudösen, wo es dem Spannungsbogen und der Konstruktion des Plots guttut.
Die Grundgeschichte ist dabei schnell erzählt und schlicht aus Shakespeares Hamlet entlehnt: Die Mutter der Erzählers ist ihres lyriksabbernden Mannes überdrüssig und beschließt zusammen mit ihrem Liebhaber, der gleichzeitig der Bruder ihres Mannes ist, diesen umzubringen. Das Königreich, was es in Hamlet zu beerben gilt, ist hier die große Villa in Londons bester Lage, die trotz ihres abgewrackten Zustandes Millionen wert ist.
Durch geschickte Wendungen im Plot baut McEwan Spannung auf, dieser Hamlet funktioniert auch als Thriller. Werden die Mörder davonkommen? Zugleich weiß man ebensowenig wie der Erzähler, was man den ruchlosen Tätern wünschen soll - was bedeuten Verhaftung oder Freiheit für das Ungeborene? Er schwankt zwischen Hass und Liebe zu seiner Mutter, ist sich seiner Abhängigkeit schmerzhaft bewusst - ein Happy End ist nicht möglich, es sei denn, man betrachtet seine Befreiung aus dem Gefängnis und seine Möglichkeit ins Leben zu treten schon als Gewinn. Nicht geboren zu werden ist schließlich keine Option.
O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.
   Shakespeare, Hamlet [vorangestelltes Motto des Romans]
Es ist ein äußerst schlauer und eleganter Roman mit vielen Facetten, feinem Humor und sprachlicher Finesse - Hut ab, Ian McEwan!


Ian McEwan, Nussschale. Diogenes, Zürich 2016.

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