"Über das Leben zu schreiben ist leicht - es zu leben ist sehr viel schwieriger."Boyne schreibt über das Leben eines katholischen Paters in Irland - man ahnt schon an dieser Stelle, worum es gehen könnte. In 16 Kapiteln lässt er Odran Yates berichten, jedes Kapitel ist übertitelt mit der Jahreszahl. Diese reichen von der Jugend Odrans 1964 bis in die Jetztzeit 2013, zusammen mit seinen Erinnerungen springt der Leser zwischen den Jahren hin und her. Die Themen, mit denen sich Odran in seiner persönlichen Lebensrückschau beschäftigt, sind seine Familiengeschichte, seine ganz persönlichen Erfahrungen und vor allem seine Ausbildung zum Priester und die Geschehnisse um seinen Freund Tom Cardle.
Odrans Familienleben wird nachhaltig durch den dramatischen Selbstmord des Vaters erschüttert. Danach wird die Mutter hochgradig religiös und drängt ihn zum Priesteramt. Er glaubt allerdings auch daran, dass dies der richtige Weg für ihn ist, entsprechend hat er kaum Schwierigkeiten, sich an das rigide Leben während der siebenjährigen Ausbildung zu gewöhnen. Allerdings beobachtet er bei anderen durchaus Probleme - zum Beispiel bei seinem Zimmergenossen Tom. Jedoch verschließt er - naiv - die Augen vor den Zusammenhängen.
Exemplarisch an Tom Cardle zeigt Boyne die Auffälligkeiten eines pädophilen, irischen Priesters - sein Verhalten gegenüber kleinen Jungen und den Messdienern - und vor allem die Reaktionen der kirchlichen Obrigkeit darauf: Häufige Versetzungen, abgelegene Posten, Drohungen gegen die Opfer bei Beschwerden und anderes, aber keine Anzeigen. Es wird deutlich, dass Fehlverhalten und Schuld nicht nur bei dem tatsächlichen Täter, sondern beim gesamten kirchlichen Apparat vorliegen.
Parallel dazu erlebt Odran die voranschreitende gesellschaftliche Veränderung in Irland in technischer, globaler, aufklärerischer und emanzipatorischer Hinsicht - von Kirchenseite oft nur als moralischer Verfall gewertet und verurteilt, sieht er schon bald die Verlogenheit dieser kirchlichen Moral. Obwohl er selbst unter den Restriktionen der Kirche zu leiden hat, bleibt er seltsam neutral und inaktiv, er kämpft weder für sich noch für andere. Erst spät erkennt er seine eigene Mitschuld, als sie ihm durch Toms Verurteilung vor Gericht und durch die mediale Aufmerksamkeit überdeutlich vor Augen geführt wird. Als Leser bleibt man skeptisch, wie weit seine Naivität wirklich reichte oder ob es vielmehr Selbstbetrug war, der ihn daran gehindert hat zu erkennen, was rund um ihn vor sich ging. Dennoch scheint ein Neuanfang, ein Aufbruch für Odran möglich, wenngleich dieser offen bleibt.
Die Geschichte der Einsamkeit ist eine beeindruckende Reflexion über das große Unrecht der katholischen Kirche (nicht nur) in Irland, für die Boyne eine Stimme wählt, mit der man eine sehr persönliche Sichtweise, eine Innensicht, einnehmen kann. Dass dieser Erzähler nicht verlässlich ist, ist dabei durchaus gewollt wie auch die Skepsis, mit der man nach dem Lesen zurückbleibt.
John Boyne, Die Geschichte der Einsamkeit. Piper, München/Berlin 2015.
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