Sunday, June 12, 2022

George Saunders - Lincoln im Bardo

Lincoln, genau, der amerikanischer Präsident Abraham Lincoln, ist eine der Hauptfiguren des Romans Lincoln im Bardo von George Saunders. Eine weitere ist sein Sohn Willie, der mit nur elf Jahren im Jahr 1862 verstarb. Basierend auf einer Zeitungsmeldung, nach der der trauernde Präsident nachts den Friedhof aufsuchte, um seinen Sohn noch einmal in den Armen zu halten, baut George Saunders eine ungewöhnliche Story auf. 

Nach seinem Tod befindet sich Willie in einem Zwischenreich, bei den Tibetern Bardo genannt, und "geistert" über eben jenen Friedhof. Bei ihm sind hunderte anderer skurriler Gestalten, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen noch nicht von der hiesigen Welt verabschieden wollen. Sie alle kommen mit ihren vielfältigen Stimmen zu Wort, einige nur kurz, andere öfter und erzählender. An verschiedenen Stellen werden auch die Geschehnisse in der realen Welt wiedergegeben, Saunders nutzt historische Quellen - Briefe, Erinnerungen, Zeitungsberichte... - und fügt fiktive hinzu, um die Situation von Lincoln und seiner Frau zu schildern und in den historischen Kontext des Civil War einzuordnen. So werden Fiktion und Realität, Geschichtliches und persönliches Schicksal intensiv miteinander verwoben. 

Das Leseerlebnis bei diesem Roman ist schon ein besonderes: Man treibt durch die zahlreichen Stimmen und Quellen, wird von einem gefühlsintensiven Moment in den nächsten geworfen. Einige der Bruchstücke fügen sich zwar zu einer Chronologie zusammen, aber das Lesen ist mehr Gefühl als Plot. Ich kann gut verstehen, dass man das Buch entweder faszinierend oder grundweg nervtötend finden muss. Lässt man sich darauf ein, so ergeben sich möglicherweise einige Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Liebe und des Todes... Es ist absolut nachvollziehbar, dass dieses ungewöhnliche Werk den Booker Prize (2017) gewonnen hat und ich bin froh, es gelesen zu haben. 

George Saunders, Lincoln im Bardo. Luchterhand, München 2017.

 

 

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