Lange hatte ich Angst in der Nacht von Yasmine Ghata wurde mir durch die Gütersloher Redaktion der Neuen Westfälischen im Rahmen der Aktion Leseprobe zur Verfügung gestellt. Der in dem Aufruf ursprünglich angegebene zeitliche Rahmen wurde nicht eingehalten, das Buch erreichte mich erst in der KW 16 statt vor den Ostertagen... Zum Glück ist es mit 160 Seiten ein kurzer Roman und dadurch schnell zu lesen.
Auf dem Cover spaziert ein kleiner Junge mit einem Koffer in der Hand über eine Düne, auf eine Sand- oder Wolkenwand zu, darüber ein hoffnungsvoller blauer Himmel. Der kleine Junge heißt Arsène, er ist acht und stammt aus Ruanda. Lange hatte ich Angst in der Nacht erzählt in einer der zwei Erzählperspektiven die Geschichte seiner Flucht vor dem Völkermord. Seine Großmutter drückt ihm den Koffer in die Hand und befiehlt ihm zu fliehen - er entkommt, während die übrige Familie ermordet wird. Der Koffer wird sein Weggefährte, sein Beschützer, an ihm hält er fest auf dem langen Weg nach Paris zu seinen neuen Pflegeeltern.
Als Suzanne, die einen Schreibkurs in seiner Pariser Klasse gibt, den Auftrag erteilt, einen Gegenstand aus der Familie auszuwählen, der eine Geschichte erzählt, stellt sich Arsène der Wiederbegegnung mit seinem Koffer. Noch nie hat er die Geschichte seiner Flucht ganz erzählt, nun erzählt er sie Suzanne.
Diese kämpft selbst mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit, der frühe Tod des Vaters hat sie mit einer Menge unverarbeiteter Trauer zurückgelassen. In dieser zweiten Erzählperspektive begibt sie sich zeitgleich mit Arsène daran, die Erinnerungen zuzulassen und dadurch in einen neuen Abschnitt des Lebens aufzubrechen.
Die beiden Erzählebenen werden stilistisch deutlich voneinander getrennt: Arsènes Geschichte erzählt indirekt auch Suzanne, denn sie schreibt seinen mündlichen Bericht in der Du-Form auf, was anfangs gewöhnungsbedürftig ist, weil man sich in die Rolle des Achtjährigen hineingedrängt fühlt, dessen Gedankenstrom erlebt und dadurch beinahe zur Empathie gezwungen wird. Verstärkt wird dies auch noch die Präsensform, welche die Autorin das ganze Buch hindurch verwendet. Suzannes Geschichte hingegen bedient sich einer normaleren Erzählperspektive aus der dritten Person, gibt Dialoge wieder und ist dadurch weniger emotional und sachlicher, so scheint es. Doch je tiefer Suzanne in die Welt ihrer Erinnerungen eintaucht, desto stärker empfindet auch der Leser mit ihr.
Dennoch ist die Geschichte Arsènes diejenige, die hängenbleibt, die berührt, die nachdenklich macht, wenn man weiß, wie viele Menschen - darunter auch Kinder wie Arsène - sich gerade in diesem Moment vielleicht auch nur mit einem Koffer oder sogar weniger in der Hand auf der Flucht befinden.
Yasmine Ghata, Lange hatte ich Angst in der Nacht. Diana, München 2018.
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