Die Geschichte beginnt in Louisiana in den 1950er Jahren. In Mallard leben per damaliger Definition Schwarze, die aber stolz darauf sind, mit jeder Generation immer hellhäutiger zu werden. Auch die Zwillinge Desiree und Stella können als Weiße durchgehen. Sie fliehen noch sehr jung aus dem kleinen und perspektivlosen Ort nach New Orleans. Und dort trennen sich ihre Wege - Desiree wird die Ehefrau eines sehr dunkelhäutigen Mannes, Stella verschwindet, gibt sich als Weiße aus und heiratet einen erfolgreichen, reichen Mann. Desiree fragt sich jahrzehntelang, was ihre Schwester getrieben hat, sie zu verlassen, vor allem auch noch, als sie mit ihrer Tochter Jude vor ihrem gewalttätigen Ehemann wieder nach Mallard zurückflieht. Stella hingegen braucht viel Kraft, um ihr Lügenkonstrukt vor ihrem Mann und ihrer Tochter Kennedy aufrecht zu erhalten.
Komplexer wird die Geschichte, als das Schicksal die beiden Töchter der Zwillinge in L.A. an den gleichen Ort führt und Jude die ihr unbekannte Stella zu Gesicht bekommt, aber in ihr sofort die Schwester der Mutter erkennt. Doch es dauert Jahre und benötigt viele Umwege, bis sich Desiree und Stella in den 1990er Jahren schließlich wiedersehen.
Bennetts Storyline für Die verschwindende Hälfte ist spannend und weckt wohl auch deswegen großes Interesse. Das zentrale Thema des Colorism (es gibt keine gute deutsche Entsprechung) wird begleitet von anderen gewichtigen Themen wie häuslicher Gewalt, problematischen Mutter-Tochter-Beziehungen und Transgender. Während ersteres im ersten Teil des Buches durch die Gegensätze und Gemeinsamkeiten der Zwillinge beleuchtet wird, fokussiert der zweite Teil auf die Leben ihrer beiden Töchter, die sehr unterschiedlich verlaufen, fast ein wenig gegenläufig zu den Leben ihrer Mütter. Die Erzählperspektive wechselt oft und die Geschichte wird nicht linear erzählt, was meines Erachtens auf Kosten der Charaktere geht, die dadurch weniger Tiefe erhalten. Besonders Stellas Beweggründe dafür, weiß zu werden, und ihr Leben als Lüge zu führen, fehlen mir, ihre oberflächliche Antwort als Spiel mit Identität reicht mir nicht. Auch das Wiedersehen der Zwillinge wirft Fragen auf, da uns die Innensicht der beiden fehlt. Und auch wenn der Transgender-Charakter Reese zusätzliche Aspekte der Identitätssuche aufwirft, so wird damit eher sehr oberflächlich umgegangen, weil wir über seine Gefühle so gut wie nichts erfahren und er an manchen Stellen eher die Projektionsfläche für Jude darstellt oder der Auslöser für die Zufallsbegegnungen von Jude und Kennedy ist.
Alles in allem hat mir Die verschwindende Hälfte gefallen, wenngleich ich mir für die Charaktere mehr Tiefe und Entwicklung gewünscht hätte und Fragen offen bleiben.
Brit Bennett, Die verschwindende Hälfte. Rowohlt, Hamburg 2020.
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