Saturday, January 09, 2016

Karin Slaughter - Pretty Girls

Karin Slaughters neuester Roman Pretty Girls (Leserunde bei Wasliestdu) ist einerseits die Geschichte einer Familie, die durch das Verschwinden einer der drei Töchter traumatisiert wurde, und andererseits ein Thriller mit einem der abartigsten Psychopathen, über den ich je gelesen habe.

Die drei Töchter der Familie sind folgende:
  1. Julia: Sie verschwand 1991 unter ungeklärten Umständen, die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt, der Vater nie. Zum Zeitpunkt der aktuellen Handlung ist er bereits tot.  
  2. Claire, die kleine Schwester: Sie ist sehr hübsch (siehe Titel) und heiratete Paul, einen erfolgreichen Architekten, und lebt dadurch in Reichtum und Bequemlichkeit, ohne dafür zu arbeiten. Sie ist dadurch in allen Lebensaspekten abhängig von ihrem Ehemann.
  3. Lydia, die Rebellin unter den Schwestern: Sie floh in die Drogenabhängigkeit, beschuldigte dann Paul der versuchten Vergewaltigung, da ihr niemand glaubt, bricht sie mit der Familie und baut sich mühsam ihr eigenes Leben auf.
Die Geschichte wird aus wechselnden Perspektiven von Claire und Lydia erzählt, dazwischen finden sich rückblendenartig Auszüge aus den Briefen des Vater an seine verschwundene Tochter Julia.
Im ersten Teil des Romans lernen wir die Familie kennen und die Handlung wird in Gang gebracht: Paul stirbt in einer Gasse bei einem Überfall, gleichzeitig ist erneut ein junges, hübsches Mädchen verschwunden. Claire trauert und fühlt sich hilflos, da ihr Leben in allen Bereichen von Paul gesteuert wurde. Als sie beginnt, sich Pauls Computer anzusehen, entdeckt sie Snuff-Pornographie und ihr wird klar, dass sie ihren Mann im Grunde nicht kennt. In einem der schrecklichen Filme glaubt sie, das gerade entführte Mädchen zu erkennen, aber als sie die Filme bei einem der ermittelnden Polizisten abliefert, ist dieser geradezu ungerührt und wimmelt sie ab. Aus ihrer Hilflosigkeit heraus nimmt Claire nach 18 Jahren Schweigen Kontakt zu ihrer Schwester Lydia auf, mit ihr zusammen recherchiert sie weiter und sie decken immer mehr Schichten von Pauls Leben auf, von denen Claire keine Ahnung hatte. Damit geraten sie in große Gefahr, aber ihr Wunsch, dem Schicksal des verschwundenen Mädchens und vor allem dem Verbleib ihrer eigenen Schwester auf den Grund zu gehen, lässt sie jedes Risiko eingehen.

Die Charaktere der beiden Frauen, von denen Slaughter selbst sagt, dass sie ihr besonders klar vor Augen standen, sind im Grunde kontrastreich angelegt und sie erfahren Entwicklung im Roman, was man von guten Protagonisten auch erwartet. Die Autorin versucht auch, den Kontrast von pretty versus clever aufzubauen, nämlich dass Claire auf ihre Schönheit reduziert wird, sie aber nach Anerkennung ihrer Intelligenz lechzt, und deswegen auch auf Paul hereinfällt, der sie diesbezüglich manipuliert. An der Stelle stutzt man, denn letztlich ist Claire unglaublich ahnungslos und naiv, was ihr eigenes Leben und den Mann an ihrer Seite angeht. Nach einer ersten, äußerst merkwürdigen Abfuhr bei der Polizei, erwägt sie auch bei den schlimmsten Entdeckungen nicht mehr, sich an eine übergeordnete Polizeistelle oder das FBI zu wenden, obwohl der Alleingang der Schwestern offensichtlich höchst gefährlich ist. Auch ist sie so kopflos, dass sie auf die Hilfe der Mutter bei den simpelsten Problemlösungen angewiesen ist (die als Helferin übrigens auch etwas willkürlich vom Himmel fällt). Claire ist eine Protagonistin, die nicht so handelt, wie sie von der Autorin charakterlich entworfen wird - ein Widerspruch in sich. Allein im Showdown ist sie überraschend beherrscht und entwickelt ungeahnte Kräfte, die aber auch beunruhigend sind.
Der Spannungsaufbau ist sehr gelungen, das erste Drittel baut langsam auf, gibt Raum zur Orientierung für die Geschehnisse der Vergangenheit und für die verschiedenen Charaktere, dann nimmt die Geschichte zunehmend Fahrt auf, fokussiert auch auf die beiden Schwestern und entwickelt sich zu einem richtigen Thriller mit den entsprechenden Elementen bis hin zum Showdown.
Der Schluss, der die Familie wieder zusammenbringt, ist etwas zu süßlich, zu abrupt und auch unwahrscheinlich nach den traumatischen Ereignissen, die alle Familienmitglieder erdulden mussten. Andererseits tut es auch gut, einen positiven Ausklang des Romans zu haben, denn die Gewaltschilderungen sind sehr intensiv und lassen selbst den krimierprobtesten Leser sicher nicht unberührt.
Pretty Girls ist ein spannender Pageturner, wenngleich man manchmal den Kopf schütteln muss über die offensichtlich Dummheit und Naivität von Claire.

Karin Slaughter, Pretty Girls. HarperCollins 2015.

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