Viele Leserinnen und Leser merken in ihren Rezensionen von Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro, wie schwer ihnen das Schreiben derselben fällt. Auch ich sitze etwas ratlos davor.
Es ist ein leiser, ein langsamer Roman. Kathy H., eine "Betreuerin", erzählt rückblickend von ihrem Leben: Sie wuchs in einer Art Internat/Kinderheim namens Hailsham auf, nahezu vollkommen abgeschottet von der übrigen Welt, um sie herum auch nur Kinder und Jugendliche, die wie sie keine Familien haben. Ähnlich wie die Kinder, die nur sehr schleppend von ihrer Bestimmung in diesem dystopischen England der 1990er Jahre erfahren, entdeckt der Leser nur nach und nach die Zusammenhänge und die schreckliche Bestimmung der Bewohner von Hailsham.
Kathy ist eine sehr subjektive Erzählerin, wenngleich sie in ihren Erzählungen einen eher nüchternen und bemüht sachlich-analytischen Ton anschlägt. Ihre Erinnerungen drehen sich oft um scheinbare Nichtigkeiten, denen sie selbst aber hohe Bedeutung zumisst. Besonders ihre Beziehungen zu Ruth und Tommy, ihren besten Freunden, werden bis ins kleinste Detail beschrieben. So steht die pedantisch und manchmal langatmig erzählte Coming-of-Age Story in einem starken Kontrast zu der schockierenden Wirklichkeit, in welche die Protagonisten als Erwachsene eintreten. Als Leser wünscht man sich oft, man würde mehr über die Hintergründe und Zusammenhänge erfahren, denn erst ganz am Ende suchen Tommy und Kathy nach der Wahrheit und man erhält einen Blick hinter die Fassade, die aber dennoch viele Fragen offen lässt.
Doch Ishiguro hat auch keinen SciFi-Dystopie geschrieben, es geht nicht wirklich um die Thematik des Klonens oder genetischer Forschung, sondern der Fokus liegt auf den zwischenmenschlichen Beziehungen unter extremen Bedingungen. Hierin liegt auch mein persönlicher "Leseschock", wenn man so will: Selbst als die Jugendlichen erfahren, was ihre Bestimmung ist, woher sie stammen und wozu sie geboren und aufgezogen werden, nehmen sie dies nahezu gelassen hin, bleiben in ihrer Rolle, betrachten weiterhin nur ihre kleine Welt und unternehmen nahezu keinen Versuch, ihr Schicksal abzuwenden. Das System wird nicht angezweifelt, kein Widerstand geleistet, obwohl es sie ins Verderben führt.
Alles, was wir geben mussten ist ein ungewöhnlicher und sehr lesenwerter Roman, der mich sicher gedanklich noch eine Weile begleiten wird.
Kazuo Ishiguro, Alles, was wir geben mussten. Hörkultur 2017.
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