In Hettches Geschichte gerät ein Mädchen nach dem Besuch einer Vorstellung auf den Dachboden der Spielstätte - und trifft dort auf die versammelten und lebendigen Marionetten der Puppenkiste und auf Hatü, die eigentlich Hannelore Oehmichen heißt, die Tochter des Gründers des Marionettentheaters. Sie erzählt dem Mädchen ihre Lebensgeschichte und dadurch auch die Geschichte des Theaters. Gleichzeitig wird die beschauliche Welt des Dachbodens mit all den liebenswerten Marionetten bedroht durch den "bösen" Kasper, der im Dunkeln lauert. Bald wird klar, dass für Hatü der Kasper alles verkörpert, was sie in der schlimmen Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges erlebt hat. Die Einberufung des Vaters, das "Verschwinden" der jüdischen Freunde und Bekannten, die Gefallenen und Verstorbenen, die Ängste der Bombennächte und die Zerstörung des ersten Puppenschreins. Hatü sucht lange nach ihrem Platz im Leben, stellt viele Dinge der Nachkriegszeit in Frage und bleibt dennoch dem Puppentheater treu. Die Erfolgsgeschichte, bei der die Puppenkiste den Sprung ins junge deutsche Fernsehen schafft (schon 1953!) und dadurch nationale Berühmtheit erringt, ist Hatü fast nicht geheuer, aber sie ist diejenige, die die unvergesslichen Figuren aus Holz erschafft. Ein paar Antworten auf ihre Lebenssinnfragen gibt ihr im Roman der Autor Michael Ende, den sie besucht, um ihm ihren Jim Knopf zu zeigen. Auch Saint-Exupery kommt durch einige Textpassagen aus Der kleine Prinz zu Wort, dessen Puppenfassung einer der ersten Erfolge der Puppenkiste war. Hettche verneigt sich quasi vor den beiden großen Autoren und ihren fantastischen und doch so wahren Geschichten, was ich sehr anrührend finde. Nicht ganz so überzeugend wie Hatüs Wahrnehmung von Krieg und seinen Folgen und dem zunehmenden Kommerz und der Ignoranz des Geschehenen in den Nachkriegsjahren finde ich die Rahmengeschichte des Mädchens auf dem Dachboden. Jede der Marionetten zeigt mehr Herz und Profil als dieses namenlose Kind, das wohl stellvertretend für die ganze Generation Heranwachsender stehen soll. Es geht zwar verändert aus der Begegnung mit Hatü und ihrer Geschichte hervor, die Erlösung des Kaspers griff mir aber zu kurz.
Alles in allem aber haben mir Hettches Geschichte und Erzählweise sehr gefallen und die Wiederbegegnung mit einigen meiner Kindheitslieblingsfiguren, an denen mein Herzfaden hängt, tat mir gut.
Thomas Hettche, Herzfaden. Argon 2020.
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