Saturday, July 05, 2014

David Mitchell - Der Wolkenatlas

Dies ist wohl eines der Bücher der letzten Jahre, das ich am sperrigsten empfunden habe. Mehrfach habe ich es zugunsten anderer Romane beiseite gelegt, sogar über Monate pausiert, mich teilweise kleckerseitenweise vorangekämpft.
Warum eigentlich?
Das Buch ist nicht schlecht.
Mitchell entwirft sechs voneinander unabhängige Lebensgeschichten und ich bediene mich mal Wikipedias Übersicht dazu, um sie darzustellen:
  1. Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing
    In den 1850ern (es wird keine genaue Zeit genannt, jedoch wird der Goldrausch in Kalifornien erwähnt); im Stile der Zeit verfasstes Tagebuch;
  2. Briefe aus Zedelghem
    1931; ein Briefzyklus;
  3. Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall
    1975; ein Kriminalroman/Thriller;
  4. Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
    In der heutigen Zeit (keine genaue Zeitangabe); Memoiren/Essay, als Vorlage für ein Drehbuch zur Verfilmung;
  5. Sonmis Oratio
    In einer dystopischen Zukunft (um 2100); ein Protokoll/Dialog;
  6. Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging
    In einer fernen Zukunft; eine Erzählung/Monolog
 Diese sechs Geschichten werden der Reihe nach erzählt, nach der letzten werden alle Ebenen noch einmal, aber in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgegriffen, der Roman endet also wieder mit dem Pazifiktagebuch des Adam Ewing. Verknüpft werden die verschiedenen Geschichten mit vielen Kleinigkeiten. Die Protagonisten tragen das gleiche Muttermal, es gibt Referenzen zu den vorangegangenen Geschichten (das Tagebuch, ein Musikstück, ein Kriminalroman usw.) und es werden philosophisch-inhaltliche Parallelen gezogen. Letztere beziehen sich auf die großen Themen Macht und Unterdrückung. In jedem Abschnitt gibt es nach Macht strebende, skrupellose Herrscher und Unterdrückte. Dabei wird dies an einerseits an Einzelschicksalen aufgezeigt - gesellschaftliche Unterdrückung von Nonkonformen (z.B. Homosexuellen oder Querdenkern) oder Unbequemen (z.B. alten Menschen) - andererseits werden auch Sklaverei (z.B. von Pazifikureinwohnern im 19. Jh. oder von Klonen in der Zukunft) thematisiert. Die Protagonisten lehnen sich auf die ein oder andere Weise dagegen auf, äußern direkt oder indirekt Gesellschaftskritik, wenngleich sie dies mit mäßigem Erfolg tun. Aber wie sagt Adam Ewing am Ende des Romans?
"
Was aber ist ein Ocean anderes als eine Vielzahl von Tropfen?"
So addiert sich vielleicht die Summe all diese Bemühungen gegen die Ungerechtigkeit der Welt doch zu einem bisschen Hoffnung.
Die Verknüpfung der Protagonisten und die Erwähnung von Reinkarnation an mehreren Stellen des Romans lässt auch die Deutung zu, dass die einzelnen Charaktere dieselbe Seele haben, also wiedergeboren sind. Dabei hat Mitchell großen Wert auf die Verschiedenheit der Erzählstile (siehe Übersicht) und des Erzähltons und der Sprache gelegt. Er imitiert die Stimmung und die Sprache der Zeit, dabei werden auch Orthographie und Satzbau entsprechend angepasst. Am deutlichsten (und auch am nervigsten für den Leser) tritt dies bei "Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging", dessen mundartliche Transkription zunächst nur schwer lesbar ist, aber sicher den zivilisatorischen Zusammenbruch und die hilflose Naivität des Erzählers gut umsetzt - auch in der deutschen Übersetzung (das war sicher eine Herausforderung für Volker Oldenburg).

Abschließend lässt sich sagen, dass Der Wolkenatlas sicherlich ein extrem gut komponierter, sehr durchstilisierter Roman ist, über den man viel nachdenken kann, gerade weil er Geschichte und die gesellschaftlichen Probleme über diesen großen Zeitraum von mehreren hundert Jahren umspannt ("History will teach us nothing..." Sting, 1987). Wirklich fesseln konnte der Roman mich nicht, sonst wären eingangs genannte Leseschwierigkeiten nicht aufgetreten, vielleicht ist er zu konstruiert, zu glatt, bietet zu wenig Identifikationsfläche in den Charakteren, die mir fast alle fremd blieben, vielleicht mit Ausnahme der beiden weiblichen Protagonisten Luisa Rey und Sonmi. Die Sprache, obwohl ausgefeilt und gezielt eingesetzt, verfehlte ihre Wirkung, sie war eher ein Problem als ein Bonus. Ich bin durchaus zufrieden, diesen Roman kennengelernt zu haben, aber eher im Sinne der literarischen Erfahrung als im Sinne des Lesegenusses.

David Mitchell, Der Wolkenatlas. Rororo, Reinbek 2007.

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