Michael Winterhoff fasst in
Die Wiederentdeckung der Kindheit die Beobachtungen, die er im Alltag und vor allem in seiner
Bonner Praxis seit den 90er Jahren bis heute gemacht hat, zusammen. Auch wenn es bereits in seinen vorangegangen Büchern (z.B.
Lasst Kinder wieder Kinder sein) deutlich wurde, wie problematisch die gesellschaftliche Situation ist, wenn Kinder und Eltern sich in Beziehungsstörungen befinden, so spannt dieses Buch noch einen weiteren Bogen.
Er weist eingangs darauf hin, dass Gewöhnung Menschen dazu bringt, Dinge im Laufe der Zeit anders wahrzunehmen und zu bewerten als dies bei der ersten Konfrontation der Fall ist. Er vergleicht Situationen und gesellschaftliche Reaktionen am Beispiel zweier fiktiver Kinderpaare, die er Alex und Alexa bzw. Luis und Luisa nennt. Das eine Paar positioniert er mit ihren Erlebnissen im Jahr 1990, das andere in vergleichbaren Situationen im Jahr 2017. Er schildert eindrücklich, wie groß die Unterschiede in den Beziehungs- und Reaktionsmodi sind, weil sich Eltern in symbiotischen Beziehungsmustern mit ihren Kindern befinden. Sie nehmen Kinder nicht mehr als Kinder, sondern als kleine Erwachsene wahr, die viel zu früh Entscheidungen, Verantwortlichkeiten und Problemen ausgesetzt werden, denen sie vom Entwicklungsstatus nicht gewachsen sind. Gleichzeitig bieten ihnen die Erziehenden keine klaren Grenzen und Orientierungsmöglichkeiten mehr, was dazu führt, dass die Psyche auf der Stufe eines 10-16 Monate alten Kindes zurückbleibt. Es lernt nicht zu unterscheiden zwischen Mensch und Gegenstand, d.h. zwischen steuerbarem und nicht steuerbarem "Ding". Es erfährt weiterhin, dass sich auch Menschen steuern lassen, besonders die Eltern, da es alles bekommt, was es möchte. So versuchen sie durchgehend Menschen zu steuern und handeln dabei rein lustbetont. Dabei ist angepasstes Verhalten zum Teil möglich, oft aber fallen diese Kinder durch ständiges Nachfragen, Unruhe oder andere Formen von Sabotage auf.
Winterhoff schildert eindringlich, dass es diesen Kindern/Jugendlichen/jungen Erwachsenen schier unmöglich ist, ein erfülltes Leben zu führen, weil sie auf allen Ebenen durch ihre unterentwickelte Psyche gehemmt werden. Sie können schlecht lernen, sind nicht anstrengungsbereit, haben verzerrte Wahrnehmungen von sich und der Welt und können wegen ihrer mangelnden Empathie kaum tragende Bindungen/Freundschaften aufbauen. Oft sind sie freudlos, obwohl sie oft in Familiensituationen leben, in denen ihnen alles prompt geboten wird, was sie möchten.
Auch die Erziehenden leiden in der Symbiose, sie fühlen sich getrieben, rastlos, und verzweifeln oft darüber, dass das Kind, das doch alles bekommt, was es braucht, zum Beispiel im schulischen Rahmen versagt. Sie empfinden dies als einen Körperteil, der nicht funktioniert.
Außerdem stellt er einen Bezug her zu der massiven Digitalisierung der Gesellschaft und damit der Familien. Einen ersten Anstieg der beziehungsgestörten Eltern sieht er Mitte/Ende der 90er Jahre (Einzug des Internets), einen weiteren ab 2007, als das Smartphone seinen Siegeszug antrat. Eindringlich beschreibt er geradezu absurde Familiensituationen, in denen digital aneinander vorbeigelebt wird - für die aber jeder von uns eigene Beispiele finden kann, sei es durch Beobachtung oder in der eigenen Unzulänglichkeit "abzuschalten".
Besonders interessant war sein Exkurs in die Schulwelt, in aller Kürze: Kompetenzorientierung und offene Unterrichtsformen unterstützen das lustgesteuerte Verhalten der psychisch unterentwickelten Kinder weiter und festigen ihr Weltbild, dass auch Lehrer sich steuern lassen und für sie persönlich keine Grenzen und Strukturen gelten.
Winterhoffs Buch ist ein höchst beunruhigender Überblick über die bestehende Situation, jede Lehrkraft kennt die von ihm beschriebenen Kinder Luis und Luisa und kann unzählige Beispiele nennen. Die vom Autor genannten Zahlen schockieren, sind aber vielleicht nicht unrealistisch.
Einmal mehr ist es aber schwer auszuhalten, dass Winterhoff nicht klarer formuliert, wie der Ausweg aus der Misere aussehen kann. Wie kann man als Lehrkraft auflösen, wenn Eltern sich in einer Beziehungsstörung, im falschen Denkmuster, in der Symbiose,... befinden, und damit die Entwicklung des Kindes verhindern? "Die klare Kante bieten" allein wird schwerlich alles richten...
So erkennt man das Problem zwar erschreckend deutlich, bleibt aber dennoch gewissermaßen hilflos zurück.
Michael Winterhoff, Die Wiederentdeckung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017.