Die Entdeckung der Langsamkeit ist der bekannteste und erfolgreichste Roman des deutschen Schriftsteller Sten Nadolny. Er erzählt die Geschichte des Seefahrers und Entdeckers Sir John Franklin (1786-1847), wobei zwar die historischen Fakten bezüglich seiner Familie, Ausbildung, seines beruflichen Werdegangs und seiner Expeditionen eingehalten werden, die Schilderung seiner Figur aber mit großer literarischer Freiheit erfolgt.
Im Titel begegnen sich die Langsamkeit und das Entdecken, die zwei Hauptmerkmale, die der Autor seiner Figur zueignet. Sein John Franklin ist als Kind schrecklich langsam, kann keinen Ball fangen, seine Wahrnehmung kommt mit (normal) schnellen Bewegungen nicht zurecht. Nach und nach lernt er, diesen Nachteil zu kompensieren, indem er viele Dinge auswendig lernt, um damit seine Reaktionszeiten zu verkürzen. So kommt erfolgreich durch die Schulzeit und auch durch die Militärzeit, wobei er immer sein Ziel verfolgt, zur See zu fahren. Dabei wird ihm schnell klar, dass er sich nicht in der Rolle eines Kriegshelden sieht, das Töten verursacht ihm Übelkeit, er will andere Küsten, Länder und Menschen sehen und entdecken. Immer mehr erwächst aus seiner Langsamkeit die Stärke der Besonnenheit - er denkt lange über Entscheidungen nach und kommt dadurch zu besseren Ergebnissen als seine hastigen Mitmenschen.
Diese Besonnenheit spiegelt sich auch in der Ruhe und Bedächtigkeit von Nadolnys Erzählstil, trotzdem kommt man nicht umhin, sich von Franklins fantastischen und gefährlichen Erlebnissen und Reisen des späten 19. Jahrhundert, als es noch Dinge zu entdecken gab, gefangen nehmen zu lassen. Zwar stößt er immer wieder an die Grenzen des Machbaren, beispielsweise in seiner Funktion als Gouverneur von Tasmanien, gibt aber nie auf und findet neue Ziele, auf die er konsequent hinarbeitet. Aber auch sein eiserner Wille bezwingt nicht das Packeis der Arktis, in dem sowohl der fiktionale als auch der historische Franklin schließlich ihr Ende finden.
Als ich den Roman erstmals als Schullektüre in den 90er Jahren las, konnte er mich nicht begeistern. Spannend fand ich die zum Buch passenden Dokumentation, die Fotos der exhumierten Leichen der Expeditionsteilnehmer zeigte und Spekulationen zu deren Todesursachen auflistete. Ich empfand die reale Geschichte als interessanter als die phasenweise zähe und stark reflektierende, gleichzeitig aber auch etwas emotionslose Schilderung im Roman. Ein Literaturstudium und einige 100 Romane später sehe ich das etwas anders. Zwar waren auch heute noch einige Abschnitte des Romans langatmig, aber dem Protagonisten bringe ich großen Respekt entgegen in Anbetracht der großen Schwierigkeiten, die ihm sein Handicap der Langsamkeit auf physischer, sozialer und emotionaler einbringt. Nadolny hat auf der Basis einer historischer Figur einen sehr facettenreichen, bewundernswerten Charakter erschaffen, dessen Handlungen erst dann wirklich plausibel werden, wenn man sich auf seine - langsame - Wahrnehmung einlässt. Und ist nicht gerade dies vor dem Hintergrund unserer hektischen, fremd- bzw. gerätegesteuerten Gegenwart höchst aktuell und bedenkenswert? Achtsamkeit. Zielstrebigkeit. Reflexion. Ich bin froh über diese Wiederbegegnung.
Abschließend ist zu sagen, dass der Autor sein Werk bedachtsam und nachdrücklich liest, ein absolut stimmiger Vortrag - keine Selbstverständlichkeit bei vorlesenden Autoren.
Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit. Mare 2004.
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