Thursday, November 30, 2023

Margaret Mitchell - Vom Winde verweht

Margaret Mitchells Vom Winde verweht ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur. Es ist zudem Mitchells einziger Roman, der Grund für ihren 1937er-Pulitzer-Preis und die Vorlage für den 1940 mit acht Oscars und zwei Ehren-Oscars ausgezeichneten Film. Gründe genug, sich diesem Brocken mal anzunähern (über 1100 Seiten!). Die Audiofassung mit Ulrich Noethen bringt es auf über 41 Stunden, eine lange Zeit, die man mit Scarlett auf Tara und in Atlanta zubringt.
Auch wenn mir die Protagonistin einiges abverlangt hat mit ihrem Egoismus und Unsensibilität bis hin zur Skrupellosigkeit, so war ich nicht in Versuchung abzubrechen. Mitchell griff für die Darstellung des Bürgerkriegs auf die Berichte von Verwandten und Bekannten zurück, die den Krieg bzw. dessen konkrete Nachwirkungen erlebt hatten, es ist weder eine detaillierte geschichtliche Darstellung noch in irgendeiner Form eine ausgewogene Erzählung, die Perspektive der befreiten Sklaven spielt keine Rolle. Erwartete man dieses, so wäre der Roman sicher unerträglich zu lesen. So ist er eine Momentaufnahme der Südstaatlerin Mitchell, eine Sichtweise aus dem Jahr 1936. Scarletts teils unschöne Eigenschaften lassen sie gleichzeitig Schritte wagen, die sie als angepasste "Southern Belle" niemals hätte tun können: Sie übernimmt die Rolle des Familienoberhaupts in Zeiten der größten Not und damit die Verantwortung für das Überleben vieler abhängiger Menschen, sie wird zur Unternehmerin in einer Zeit, in der Frauen nicht arbeiteten, vor allem nicht Menschen der oberen Gesellschaftsschicht. Sie setzt sich über die Konventionen bei ihrer Männerwahl hinweg (wenngleich ihre Entscheidungen abstrus wirken) und heiratet dreimal in einem Zeitraum von wenigen Jahren und sie verweigert sich der Mutterrolle. So ergeben sich schon viele spannende Momente in diesem Mammutwerk, es wird nicht langweilig. Jetzt werde ich mir auch noch einmal den Film anschauen (müssen), was in der Weihnachtszeit mit den vielen Klassiker-Wiederholungen nicht schwer sein wird. 

Margaret Mitchell, Vom Winde verweht. Hoffmann und Campe 2008.

Saturday, November 18, 2023

Elizabeth Hayes - Wohin du auch fliehst

Wohin du auch fliehst von Elizabeth Hayes stellt das Leben der Protagonistin Cathy in zwei Zeitebenen dar. In der Vergangenheit lernt sie als spaßorientierte junge Frau den gutaussehenden Lee kennen, als dieser als Türsteher in einem Club arbeitet. Ihr rotes Kleid hat große Wirkung auf ihn und kurz darauf trifft sie ihn in ihrem Fitnessstudio wieder und ihre Beziehungsgeschichte nimmt ihren Lauf.
In der Gegenwart ist Cathy nach London umgezogen und ihr Leben wird bestimmt von ihrer Zwangsstörung. Das Kontrollieren von Wohnungstüren und Fenstern nimmt weite Teile ihrer Zeit und ihrer Gedanken ein, sie fürchtet sich davor, dass Lee sie wiederfindet.
Von diesen zwei Perspektiven wird eine Geschichte von Missbrauch und Gewalt beleuchtet, wie sie brutaler kaum sein könnte. Parallel in stets abwechselnden Kapiteln erfahren wir von Lees schleichender Veränderung vom attraktiven Traummann in einen brutalen Kontrollfreak einerseits und Cathys zögerlichem Kampf gegen die Angst und die Zwänge andererseits.

Die steten Wechsel der Perpektive machen das Buch zu einem Pageturner, man möchte wissen, wie es weitergeht. Leider überzeugen die Charaktere nicht gleichermaßen. Cathys Veränderung von der lebenslustigen Frau zum verängstigten, mausgrauen Opfer mag angesichts des manipulativen Missbrauchs und den physischen und psychischen Verletzungen vielleicht noch nachvollziehbar sein. Doch der verständnisvollen Psychologenfreund, der sie auf den Weg der Heilung bringt, aber gleichzeitig auch noch der neue Geliebte wird, kommt doch allzu offensichtlich daher. Auch ihre übrigen Beziehungen zu Freundinnen sind wenig glaubhaft, da sie Cathy alle im Stich lassen ohne irgend etwas zu hinterfragen. Dass es bei dieser Form von starken Zwangshandlungen nur ein paar Atemübungen braucht, um den Heilungsprozess in Gang zu bringen, bzw. eine Skalierung ihrer Ängste innerhalb weniger Wochen dazu führt, dass sie ihrem Peiniger selbstbewusst gegenübertreten kann, fand ich fast befremdlich, zumal die Schilderung ihrer Entwicklung nicht immer nachvollziehbar, sondern eher sprunghaft war. Auch das Ende, als Abschluss eines Lebensabschnittes konzipiert, war für mich nicht schlüssig.
Mich hat Wohin du auch fliehst insgesamt zwar durch den durchgehend hohen Spannungslevel unterhalten, aber in letzter Konsequenz stilistisch und vor allem von den Charakteren her nicht überzeugen können.

Elizabeth Hayes, Wohin du auch fliehst. Diana Verlag, München 2011.

 

Saturday, November 04, 2023

Brit Bennett - Die verschwindende Hälfte

Brit Bennetts zweiter Roman Die verschwindende Hälfte war in den USA ein großer Erfolg und war nominiert für zahlreiche Preise.

Die Geschichte beginnt in Louisiana in den 1950er Jahren. In Mallard leben per damaliger Definition Schwarze, die aber stolz darauf sind, mit jeder Generation immer hellhäutiger zu werden. Auch die Zwillinge Desiree und Stella können als Weiße durchgehen. Sie fliehen noch sehr jung aus dem kleinen und perspektivlosen Ort nach New Orleans. Und dort trennen sich ihre Wege - Desiree wird die Ehefrau eines sehr dunkelhäutigen Mannes, Stella verschwindet, gibt sich als Weiße aus und heiratet einen erfolgreichen, reichen Mann. Desiree fragt sich jahrzehntelang, was ihre Schwester getrieben hat, sie zu verlassen, vor allem auch noch, als sie mit ihrer Tochter Jude vor ihrem gewalttätigen Ehemann wieder nach Mallard zurückflieht. Stella hingegen braucht viel Kraft, um ihr Lügenkonstrukt vor ihrem Mann und ihrer Tochter Kennedy aufrecht zu erhalten.
Komplexer wird die Geschichte, als das Schicksal die beiden Töchter der Zwillinge in L.A. an den gleichen Ort führt und Jude die ihr unbekannte Stella zu Gesicht bekommt, aber in ihr sofort die Schwester der Mutter erkennt. Doch es dauert Jahre und benötigt viele Umwege, bis sich Desiree und Stella in den 1990er Jahren schließlich wiedersehen.

Bennetts Storyline für Die verschwindende Hälfte ist spannend und weckt wohl auch deswegen großes Interesse. Das zentrale Thema des Colorism (es gibt keine gute deutsche Entsprechung) wird begleitet von anderen gewichtigen Themen wie häuslicher Gewalt, problematischen Mutter-Tochter-Beziehungen und Transgender. Während ersteres im ersten Teil des Buches durch die Gegensätze und Gemeinsamkeiten der Zwillinge beleuchtet wird, fokussiert der zweite Teil auf die Leben ihrer beiden Töchter, die sehr unterschiedlich verlaufen, fast ein wenig gegenläufig zu den Leben ihrer Mütter. Die Erzählperspektive wechselt oft und die Geschichte wird nicht linear erzählt, was meines Erachtens auf Kosten der Charaktere geht, die dadurch weniger Tiefe erhalten. Besonders Stellas Beweggründe dafür, weiß zu werden, und ihr Leben als Lüge zu führen, fehlen mir, ihre oberflächliche Antwort als Spiel mit Identität reicht mir nicht. Auch das Wiedersehen der Zwillinge wirft Fragen auf, da uns die Innensicht der beiden fehlt. Und auch wenn der Transgender-Charakter Reese zusätzliche Aspekte der Identitätssuche aufwirft, so wird damit eher sehr oberflächlich umgegangen, weil wir über seine Gefühle so gut wie nichts erfahren und er an manchen Stellen eher die Projektionsfläche für Jude darstellt oder der Auslöser für die Zufallsbegegnungen von Jude und Kennedy ist.

Alles in allem hat mir Die verschwindende Hälfte gefallen, wenngleich ich mir für die Charaktere mehr Tiefe und Entwicklung gewünscht hätte und Fragen offen bleiben. 

Brit Bennett, Die verschwindende Hälfte. Rowohlt, Hamburg 2020.

Friday, November 03, 2023

Martin Walker - Menu Surprise

Der 11. Fall von Martin Walkers Reihe um Bruno Chef de Police mit dem Titel Menu Surprise beginnt mit Brunos Beförderung - er ist jetzt nicht nur für St. Denis zuständig, sondern als Chef der kommunalen Polizei für das ganze Tal der Vézère. Seine Zuständigkeiten und vor allem, wer nun sein Vorgesetzter ist, werden gleich in einem brisanten Fall getestet. Zwei Tote werden entdeckt und mindestens einer von ihnen hat Verbindungen zum irischen Geheimdienst. Eh man sich versieht, reisen Geheimdienstler verschiedener Länder an und verschiedene Szenarien werden durchleuchtet. Bruno muss außerdem noch als Experte in einem Kochkurs seiner Freundin Pamela einspringen und überhaupt wird wieder viel gekocht und über Weine und Lebensmittel gesprochen, während auf der persönlichen Ebene scheinbar die Schwangerschaft einer jungen Rugbyspielerin das wichtigste Thema aller in St. Denis zu sein scheint. 

Das alles wollte sich meines Erachtens in Menu Surprise diesmal nicht zu einem Ganzen zusammenfügen. Trivialität und kulinarische Behaglichkeit stehen in zu großem Kontrast zu dem achso weltpolitisch-dramatischen Geschehen um die Morde und ihre Zusammenhänge. Einige der Bemerkungen und Überlegungen Brunos zur Frauenrolle und zum Thema Abtreibungen stoßen außerdem etwas bitter auf. 

Martin Walker, Menu Surprise. Diogenes 2019.