Tom entdeckt schließlich in den Unterlagen seiner Mutter ein Foto, das ein kleines dunkelhäutiges Mädchen zeigt. Greta will zunächst nichts sagen, spricht dann aber doch vom "Mariele", das Ergebnis ihrer "unmöglichen Liebe" zu einem afroamerikanischen Soldaten. Tom ist schockiert darüber, was er alles nicht über die Vergangenheit seiner Mutter weiß, aber da ihr Gedächtnis so trügerisch ist, beginnt er mit Hilfe einer Kollegin zu recherchieren und findet eine Menge Schockierendes heraus - über den Rassimus im Nachkriegsdeutschland und den Umgang mit den "brown babies", zu denen seine Halbschwester gehörte. Was ist aus dem Vater und Marie geworden?
Susanne Abel entwickelt in Stay away from Gretchen ausgehend von der sich selbst verlierenden und sich zugleich erinnernden Greta eine emotional anrührende Familiengeschichte. Während das Kind Greta sich für die Hitlerjugend und den Führer begeistern kann, wird schon bald die Gespaltenheit ihrer Familie deutlich. Doch der von den Nationalsozialisten überzeugte Vater wird zum Krieg eingezogen, bevor sich der Konflikt mit dem Großvater mit dem SPD-Parteibuch zuspitzen kann. Greta muss Stärke und Ausdauer entwickeln, um die schweren Zeiten zu überleben. Und sie entscheidet sich schließlich bewusst für die Beziehung zu dem afroamerikanischen Bob. Die Autorin greift damit einen nur wenig beleuchteten Aspekt der deutschen Nachkriegsgeschichte auf, reißt allerdings das Thema der Rolle der Afroamerikaner in der US-Armee und deren Einfluss auf die Civil Rights Bewegung in den USA nur an. Während Gretas Leiden daran, dass ihr das Kind weggenommen wurde, sehr präsent und emotional erlebbar wird - sowohl für Tom als auch für den Lesenden - bleiben die genauen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge vage. Verglichen mit Greta, der jetzigen und der damaligen, bleibt Tom eher unnahbar, in manchen Situationen sogar unsympathisch. Er hat trotz seines Berufs einen eher sehr eingeschränkten Blick auf die Menschen um ihn herum, ist oft durchweg unhöflich und es fehlt ihm schlicht an Empathie. Es wirkt oft so, als müsse er sich zwingen, nett zu sein - meistens aber dann, wenn er bei der Person noch etwas erreichen möchte. Er durchläuft zwar eine Entwicklung im Zuge seiner Entdeckungen, aber die Erklärung, seine verkrampfte, unsensible und unreflektierte Persönlichkeit würde durch das unverarbeitete Trauma seiner Mutter verursacht, missfällt mir und ist zu simpel. Überhaupt scheint es, als würde Susanne Abel im letzten Drittel des Romans Abkürzungen nehmen, um dem Roman zu einem runden Abschluss zu bringen. Plötzlich zeigen sich positive Ergebnisse der Recherchen und die Zusammenführung der Familie gelingt überraschend, wenngleich sie durch Gretas Krankheit getrübt ist. Es bleiben Fragen offen (vielleicht war der Folgeroman bereits geplant?) und die letzten Kapitel sind sehr emotional. Toms charakterliche Wandlung wirkte auf mich in diesem letzten Teil zu forciert, aber gern hätte ich Bob und Grace noch besser kennengelernt. Besonders in Erinnerung bleibt mir der meines Erachtens recht gelungene Bezug von Gretas Fluchtgeschichte zur Flüchtlingskrise 2015/16, der erzählerisch gut verknüpft wird.
Insgesamt hat mich Stay away from Gretchen trotz der Kritikpunkte berührt, sowohl die Protagonistin als auch die geschichtlichen Zusammenhänge haben mich in ihren Bann geschlagen, so dass ich den Roman in kurzer Zeit zuende gehört habe.
Susanne Abel, Stay away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe. Hörbuch Hamburg 2022.
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