Wednesday, December 14, 2016

Cornelia Funke - Herr der Diebe

In Herr der Diebe erzählt Cornelia Funke die Geschichte einer Gruppe von Kindern, die versuchen, sich in Venedig ohne die Hilfe von Erwachsenen durchzuschlagen. Sie leben in einem alten Kino und ihr Anführer nennt sich Herr der Diebe, heißt aber eigentlich Scipio. Er bringt ihnen von Zeit zu Zeit erbeutete Gegenstände, die sie bei einem Antiquitätenhändler zu Geld machen. Bedroht wird ihre scheinbare Sicherheit durch den Privatdetektiv Victor, der den Auftrag hat, die Geschwister Bo und Prosper, die nach dem Tod ihrer Eltern nach Venedig geflohen sind, im Auftrag ihrer Tante zu suchen. Gleichzeitig erhält die Bande den mysteriösen Auftrag einen scheinbar wertlosen Gegenstand aus dem Haus der Fotografin Ida Spavento zu stehlen.
Jedoch entwickelt sich die Geschichte nicht wie erwartet...
Der Roman besticht vor allem durch die zahlreichen Wendepunkte: Die einzelnen Charaktere erhalten von Kapitel zu Kapitel mehr Tiefe und treffen Entscheidungen, die so nicht zu erwarten waren - vor allem Scipio und Victor sind nicht die, die sie anfangs zu sein scheinen, ihre unerwarteten Reaktionen werden aber plausibel, sobald wir etwas mehr über ihre persönliche Geschichte erfahren.
Das Thema des Erwachsenseins und des Erwachsenwerdens steht wie ein großes Motto über allen Charakteren: Sie wollen nicht mehr in der Rolle des Kindes gefangen sein, sehnen sich zurück zu den Abenteuern der Kindheit, haben Kindheit nachzuholen oder werden langsam, aber stetig erwachsener und übernehmen Verantwortung für sich und andere. Genau diese Vielschichtigkeit und Spannung zwischen Kind- und Erwachsensein stellt Funke an den Anfang des Romans:
"Erwachsene erinnern sich nicht daran, wie es war, ein Kind zu sein. 
Auch wenn sie es behaupten.
Sie wissen es nicht mehr. Glaub mir.
Sie haben alles vergessen.
Wie viel größer die Welt ihnen damals erschien.
Dass es mühsam sein konnte, auf einen Stuhl zu klettern.
Wie fühlte es sich an, immer hochzublicken?
Vergessen.
Sie wissen es nicht mehr.
Du wirst es auch vergessen.
Manchmal reden die Erwachsenen davon, wie schön es war, ein Kind zu sein.
Sie träumen sogar davon, wieder eins zu sein.
Aber wovon haben sie geträumt, als sie Kinder waren?
Weißt du es?
Ich glaube, sie träumten davon, endlich erwachsen zu sein."
Um all diese Perspektiven noch etwas intensiver zu beleuchten, bedient sich die Autorin eines einzelnen fantastischen Elements in einem sonst in der realistischen Jetztzeit beheimateten Romans: Ein Karussel, dass den, der darauf fährt, älter oder jünger machen kann - es steht in einem verwilderten Labyrinth auf einer mysteriösen, verlassenen Insel und besticht durch seine schlichte Schönheit - real und symbolisch.
Am beeindruckendsten ist die Tatsache, dass Funke das Meisterstück gelingt, beim Leser selbst für die bösen Charaktere, die Gegenspieler der Kinder, Sympathie oder zumindest Verständnis zu wecken. Auch diese haben eine Geschichte und Beweggründe, warum sie so sind, wie sie sind. Den Protagonisten hingegen gönnt man das Happy End, dass die Autorin ihnen geschrieben hat, von ganzem Herzen. Ein liebenswerter, poetischer und zugleich spannender Roman mit starken Charakteren - eine Seltenheit.

Cornelia Funke, Herr der Diebe. Dressler, Hamburg 2000.

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