22 Bahnen ist ein Coming-of-Age Roman mit Tiefe. Eindrücklich werden die durch die Sucht der Mutter ausgelöste Rollenverschiebungen dargestellt. Tilda muss schon seit Jahren allein für die Schwester und die Mutter sorgen, Ida hat Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen, während die Mutter selbst nach ihrem Krankenhausaufenthalt die Augen vor ihrem eigenen Problem verschließt. Alkoholismus trifft die ganze Familie. Tildas versucht das einzig Logische, nämlich die Schwester zu stärken, um ein eigenes Leben beginnen zu können. Den Handlungsstrang um Viktor und sein Familientrauma hätte es meines Erachtens nach nicht unbedingt gebraucht - natürlich bestärkt das Verlieben und die neue Beziehung Tilda in ihrem Vorhaben, aber er wird teils zu sehr als "Retter in der Not" stilisiert, was den starken Charakteren der Schwestern nicht gerecht wird - sie hätten es auch ohne ihn geschafft. Tilda wirkt ansonsten sehr authentisch, von ihrer logisch-mathematischen Herangehensweise an ihren Alltag bis zu ihren Schwierigkeiten loszulassen und Freude am Leben zu empfinden. Die Dialogstruktur (Name: ....) ist etwas gewöhnungsbedürftig, besonders beim Hörbuch war das manchmal irritierend, was aber nichts mit Carolin Haupts Lesung zu tun hat, die sehr gut zu Tildas Erzählung passt.
Insgesamt ein feiner Debutroman von Caroline Wahl.
Caroline Wahl, 22 Bahnen. Dumont 2023.
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